Sozialistische Marktwirtschaft -Erfolgreiche Bilanz

Vietnam debattiert über seinen Weg zum Sozialismus. Wirtschaftsmanager wollen stärkere Öffnung gegenüber Kapital

Von Gerhard Feldbauer

Seit Mai findet in Vietnam eine Diskussion über die Entwicklung zum Sozialismus statt. Eröffnet hatte sie der Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KPV), Nguyen Phu Trong, mit dem Artikel »Einige theoretische und praktische Fragen zum Weg Vietnams zum Sozialismus«. Es geht vor allem um die Richtung, die das Land nach dem Untergang der UdSSR und der sozialistischen Staaten in Europa 1989/90 eingeschlagen hat. Infolge dieser Niederlage verlor Vietnam mit einem Schlag seine bis dahin wichtigsten Partner im internationalen Handel. Um seine Existenz zu sichern, musste Vietnam zur Kooperation mit der kapitalistischen Weltwirtschaft über-gehen. Es ging darum, Auslandsinvestitionen zu erschließen, Importe zu sichern und Zugang zu neuen Absatzmärkten zu gewinnen. Andernfalls wäre Vietnam dem Schicksal eines dem Neokolonialismus unterworfenen Entwicklungslandes, wären seine Menschen der Not und dem Elend ausgeliefert worden, wie in den meisten Ländern der »dritten Welt«. Diese Zusam-menarbeit musste auch den ehemaligen Kriegsgegner, die USA, als führende Wirtschaftsmacht der westlichen Welt einschließen. Die internationale Kooperation erforderte eine Dezentralisierung des Bankensystems, die Zulassung privater Geldhäuser und eine marktorientierte Finanzpolitik. Schritt für Schritt schloss die Sozialistische Republik Vietnam eine Vielzahl bilateraler Verträge mit ausländischen kapitalistischen Unternehmen, trat dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank bei und schloss zuletzt 2019 nach über dreijährigen Verhandlungen das »EU-Vietnam Free Trade Agreement« (EVFTA) mit der Europäischen Union.

Blick auf The Landmark 81 – das höchste Gebäude Vietnams in Ho Chi Minh Stadt
Foto: http://bdsthtland.vn/

Auf diesem schwierigen und steinigen Weg musste Vietnam Kompromisse eingehen, zum Beispiel den Schutz ausländischer Investitionen gewähren, dem Umgang mit neoliberalen Essentials wie dem mit geistigem Eigentum zustimmen, Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berücksichtigen und, wie etwa im Abkommen mit der EU festgehalten, den Abbau von 99 Prozent der Zölle akzeptieren, sich aber auch zur Umsetzung des Pariser Klimaschutz-abkommens verpflichten. Für Vietnam war entscheidend, dass es mit dem Abkommen seine Position als zweitgrößter Handels-partner der EU aus dem Verband der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) ausbauen kann. Vietnam expor-tierte schon 2018 Waren und Dienst-leistungen im Wert von mehr als 35 Milliarden Euro in EU-Länder, darunter neben Kleidung vor allem Mobiltelefone und Ersatzteile, und importierte von dort Waren im Volumen von mehr als zehn Milliarden Euro. Die vietnamesischen Exporte lagen damit nur zehn Milliarden Euro unter dem, was die Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay im gleichen Jahr zusammen in die EU ausführten. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass Vietnam keineswegs ein Rohstofflieferant, sondern ein wichtiger Produktionsstandort ist.

Seehafen Cat Lai (HCMC) – Foto: Vietship

Bei dieser wirtschaftlichen und auch wissenschaftlich-technischen Kooperation versuchten die westlichen Unternehmen, unterstützt von ihren Regierungen, dem privatkapitalistischen Sektor in Vietnam ein Übergewicht über den vorherrschenden gesellschaftlichen zu verschaffen und die führende Rolle der KPV zu untergraben, um den sozialistischen Weg zu unterminieren. Einige private Wirtschaftsmanager leisteten ihnen dabei Schützenhilfe. Vietnam hat bisher jedoch alle Versuche, seine wirtschaftliche Souveränität und die Kommandogewalt über seine Wirtschaft anzutasten, zurückgewiesen. Die KPV hat nach 1989/90, im Gegensatz zu den Kommunistischen Parteien der sozialistischen Staaten Osteuropas, gerade nicht den Pfad der Sozialdemokratie eingeschlagen. Auf dem 13. Parteitag im Januar dieses Jahres zählte sie 5,1 Millionen Mitglieder, darunter 60 Prozent Jugendliche, die die im Westen verbreitete Meinung, die Jugend interessiere sich nicht für Befreiungskrieg und Sozialismus, Lügen strafen.

Auf seinem sozialistischen Weg ist ­Vietnam als einstiges Agrarland zu einer modernen Industrienation aufgestiegen. Mit jährlichen Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent ist ihre Wirtschaft die stärkste im gesamten südostasiatischen Raum. Laut dem For-schungsinstitut Statista betrug das Brutto-inlandsprodukt pro Kopf 2002 rund 550 US-Dollar, 2019 war es bereits auf mehr als 3.400 US-Dollar gewachsen. Das wird u. a. auf gestiegene Durchschnitts- und Mindestlöhne sowie eine niedrige Inflationsrate zurück-geführt.

Während in den meisten Ländern der sogenannten dritten Welt Hunger und Elend herrschen, haben sich die Vietnamesen ein bescheidenes, aber besseres Leben geschaffen, in dem die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln gewährleistet ist. Der Jugend stehen alle Möglichkeiten der Bildung offen. Allein Ho-Chi-Minh-Stadt (das frühere Saigon), das auf inzwischen rund acht Millionen Einwohner angewachsen ist, verfügt über 50 Universitäten und Hochschulen.

Quelle: Junge Welt