Kultur, Land und Leute

Kultur, Land und Leute

Denken die Vietnamesen anders?

1) Religionen und ethische Lehren in Vietnam in Vergangenheit und Gegenwart
(Vortrag von Prof. Dr.Wilfried Lulei auf dem Mekongländertag in der VHS Berlin Schöneberg am 13.Oktober 2001)

1.Vorbemerkung : Das Thema ist nach den Ereignissen des 11.September 2001 zunehmend aktuell geworden. Die Welt ist nicht mehr die gleiche wie vorher? Die Menschen sind gezwungen, über manche Fragen neu nachzudenken. Es hat in letzter Zeit sehr bedenkliche Äußerungen über die Pflicht der Verteidigung der (westlichen) Zivilisation gegeben. Die Betonung, dass die Terroristen “islamische Terroristen” sind, hat Gedanken an den Kampf der Kulturen, an die Notwendigkeit des Schutzes der Zivilisation vor den weniger Zivilisierten aufkommen lassen und die Forderung nach bedingungsloser Rache.

Zum Glück gibt es auch sehr viele vernünftige Stimmen, die einerseits die konsequente Verfolgung der Terroristen fordern ,andererseits aber vor einer pauschalen Verurteilung und Verdächtigung alles Fremden und Unbekannten warnen. Die Forderung sich mehr mit dem Wesen anderer Kulturen, Religionen, ethischer Lehren zu befassen, Anderssein zu akzeptieren und die interkulturelle Zusammenarbeit zu fördern, wird immer lauter. Ich möchte meinen Vortrag genau in dieser Richtung verstanden wissen,

2. Vorbemerkung: Das Bild Vietnams ist im Ausland immer noch durch einige wenige Ereignisse und durch viele Vorurteile oder zumindest einseitige Kenntnisse geprägt.

Den meisten Deutschen fallen auf Anhieb v.a. folgende Stichworte ein: Indochinakriege, boat people, Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit, Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei, Rückkehrerproblematik, Zigarettenmafia, Unwetterkatastrophen. Vielleicht auch noch Begriffe, wie schöne Landschaft, Reformpolitik, Reisproduktion, fleißige Menschen.

Fragt man nach Weltanschauung, Religion und ethischen Lehren, werden Konfuzianismus, Buddhismus und Kommunismus genannt, aber nur wenige wissen, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen und wie fest sie im Denken der Mehrheit verwurzelt sind. Für viele Vertreter des Westens (im Sinne des Okzidents, nicht im Sinne moderner politischer Wertung) ist das Denken der Vietnamesen überwiegend geprägt durch starre hierarchische Strukturen, durch fortschrittshemmende traditionelle Denk- und Verhaltensweisen, durch weitgehendes Fehlen von Demokratie und Pluralismus. Sie denken, daß das geistig-kulturelle Leben, früher geprägt duch den Konfuzianismus und in den letzten Jahrzehnten durch den Kommunismus, einseitig und wenig entwickelt ist. Manche glauben sogar eine direkte Linie zwischen Konfuzianismus und Kommunismus zu erkennen. Sie können nicht verstehen, daß Vietnamesen zwar wirtschaftlich-soziale, aber keineswegs geistig-kulturelle Unterentwicklung für sich akzeptieren. Händler, Unternehmer und Politiker tun sich häufig schwer in der Zusammenarbeit mit Vietnamesen und beschweren sich, daß diese anders denken. Selbst Leute mit “Asien-Erfahrung” stellen fest, daß die Kenntnisse aus China, Japan oder Singapur nicht einfach auf Vietnam übertragbar sind.

Denken die Vietnamesen wirklich anders? Und wo liegt Ihre Spezifik? Ich will hier einige Informationen vermitteln und einige Hintergründe erhellen. Ich kann weder die Problematik umfassend darstellen noch eine tiefgründige Analyse liefern. Ich will zu einer differenzierten Betrachtungsweise und zum Nachdenken anregen.

In ihrer langen Geschichte galten die Vietnamesen stets eher als konservativ denn als reformfreudig. Über zwei Jahrtausende war die feudal-konfuzianische Agrargesellschaft mehr durch ein Festhalten am Bestehenden als durch das Streben nach einschneidenden Veränderungen geprägt. Die zahlreichen Aufstände in der vorkolonialen Zeit wollten das bestehende Gesellschaftssystem nicht überwinden, sondern es vervollkommnen und es von seinen Fehlern und Schwächen befreien. Sie stellten das auf konfuzianischen Staats- und Morallehren basierende Gesellschaftssystem selten prinzipiell in Frage, sondern erhoben sich gegen Mandarine und Könige, die gegen dessen Grundsätze verstießen.

Das Vordringen der Europäer im 18. Und 19. Jahrhundert mit ihrer überlegenen Wissenschaft, Technik und Produktionsweise wurde, von wenigen weitsichtigen Reformern ausgenommen, einseitig als Bedrohung (was es ja auch tatsächlich war), nicht auch als Chance zur Überwindung rückständiger und verkrusteter Strukturen wahrgenommen.

Allerdings ist es falsch, daß der Konfuzianismus die allein dominierende ethische Lehre im vorkolonialen Vietnam war. Neben ihm hatten der Daoismus und der Buddhismus beträchtlichen Einfluß. Alle drei Lehren fanden in Giao Chi, wie die Chinesen damals die südlichste Provinz ihres Reiches nannten, im 1. Jahrhundert nach Christi Eingang und alle drei kamen aus China (bzw. der Buddhismus nahm den Weg über China). Konfuzianismus und Daoismus wurden im Rahmen einer angestrebten Assimilierungspolitik von chinesischen Gouverneuren, Präfekten und Mandarinen eifrig verbreitet, sollten sie doch helfen, Vietnam als festen Bestandteil in das “Reich der Mitte” zu integrieren. Sie wurden bestimmend für das offizielle Staats- und Gesellschaftssystem, für seine Kultur und sein Geistesleben. Der Konfuzianismus betonte die Rolle der Hierarchie, das den Rechten und Pflichten gemäße Verhalten, die Ableitung der Stellung des Menschen in der Gesellschaft aus seinen moralischen Qualitäten. Nur wenn die Edlen und Weisen die Welt regierten, konnte diese in Ordnung sein. Menschliche Ordnung in einer streng hierarchisch aufgebauten Gesellschaft, die überwiegend auf Erziehung und Selbsterziehung basierte, waren Grundpfeiler seines Verhaltenskodexes, der durch fünf grundlegende Beziehungen gekennzeichnet war:

  • Güte des Herrschers – Loyalität des Untertanen,
  • Liebe des Vaters – Pietät des Sohnes,
  • Wohlwollen des Älteren – Ehrfurcht des Jüngeren,
  • Gerechtigkeit des Mannes – Gehorsam der Frau,
  • Treue des Freundes – Treue des Freundes

Zentrale Idee des Daoismus war das “Dao de jing” (Buch von Weg und Sittlichkeit). Aus dem “Dao”, der Ursubstanz des Weltalls, waren das passive weibliche und das aktive männliche Prinzip der Welt (“Yin” und “Yang”) hervorgegangen. Die Welt wandelt sich, kehrt aber in einem ewigen Kreislauf immer zum Ausgangspunkt zurück. Der Daoismus fordert vom Menschen Bescheidenheit, Verinnerlichung, Passivität, während der Konfuzianismus die ständige Vervollkommnung und aktives Handeln im Rahmen vorgegebener Gesetze und Regeln erwartet. Während für den Konfuzianismus eine “universielle Ordnung” Idealbild und anzustrebendes Ziel ist, gilt diese im Daoismus als gegeben im Rahmen einer Harmonie der Gegensätze, die sich im Zusammenwirken unterschiedlicher Prinzipien zeigt: Männlich-weiblich; Ruhe-Bewegung, Himmel-Erde usw.. Beiden Lehren gemeinsam ist die Anerkennung “ewiger” Prinzipien, die Unterordnung des Einzelnen unter allgemeine Verhaltensregeln, die Akzeptanz bestehender Regeln und Normen, die Unterordnung der eigenen Interessen unter die der Gemeinschaft. Im Laufe der chinesischen Herrschaft über das damalige Vietnam (d.h. den nördlichen Teil des heutigen Territoriums) wurden diese Lehren bestimmend für das offizielle Staats- und Gesellschaftssystem, für seine Kultur und sein Geistesleben. Chinesisch wurde zur Sprache der Oberschicht und der Gebildeten. Die konfuzianischen Literaturprüfungen, in denen die Beherrschung der Lehren des Konfuzius und ihre Interpretation im Mittelpunkt standen, wurden zur Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung und den Erhalt von staatlichen Ämtern.

Als Vietnam im 10. Jahrhundert seine Unabhängigkeit von China errang, zog es politisch, wirtschaftlich und militärisch einen klaren Trennungsstrich zum großen Nachbarn im Norden.. Im geistig-kulturellen Bereich blieb es jedoch fest im chinesischen Kulturkreis verankert.. Bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts sprach die Oberschicht chinesisch, die konfuzianischen Literaturprüfungen blieben Grundlage der Beamtenauswahl und konfuzianische Moralvorstellungen bestimmten die Verhaltensnormen. So begingen zu Beginn der Kolonisierung viele Feldherren nach einer verlorenen Schlacht Selbstmord, statt den Widerstand zu organiseren.

Lange Zeit blieben diese Lehren auf die Oberschicht und die Gelehrten beschränkt. Die dörfliche Bevölkerung, d.h. über 90% der Vietnamesen, nahm davon wenig Notiz. Ihre Vorstellungswelt war von Ahnenverehrung und Animismus geprägt. Beide gibt es in Vietnam, solange dort Menschen leben, sie waren also lange vor den großen Morallehren und Religionen verbreitet. Nach traditionellen vietnamesischen Vorstellungen enden die familiären Beziehungen nicht mit dem Tod, sondern zur Familie gehören auch die Verstorbenen. Ein Ahnenaltar findet sich bis heute in den meisten Familien. Zu Festen (vor allem zum Mond-Neujahr) und zu besonderen Anlässen werden die Ahnen in die Familienfeiern einbezogen. Die Ahnenverehrung ist eng mit der hohen Achtung vor dem Alter verbunden. Wer der Ahnen in Würde, Ruhe und Ehrfurcht gedenkt, wird im Notfall deren Unterstützung erhalten. Trägt er aber Schuld daran, daß sie keine Ruhe finden, muß befürchten, daß sie der Familie Schaden zufügen.

So alt wie der Ahnenkult sind Naturgottheiten und Geisterglauben, wobei die Grenzen zwischen Göttern und Geistern nicht genau gezogen sind. Alles, von dem man Hilfe erwartete oder Schaden befürchtete, mußte durch Opfergaben oder auf andere Weise ermuntert oder besänftigt, zum Verweilen gebeten oder ferngehalten werden. Götter bzw. Geister konnten Blitz und Donner, Berge oder Bäume, Tiere aber auch Geister von Personen sein. Ein Stein, Baum oder Tier konnte Sitz eines Geistes, aber auch selbst Geist sein, wobei oft nicht eindeutig zwischen guten und bösen Geistern unterschieden wurde. Ihr Verhalten war oft Reaktion auf die Taten oder Unterlassungen der Menschen.

Helden, die sich um das Land oder das Dorf verdient gemacht hatten, wurden als Götter verehrt. So wurden Dorfgründer häufig nach ihrem Tode als Schutzgeister des Dorfes erkoren. Es konnte allerdings passieren, daß die Gemeinde sich später einen anderen Schutzgeist suchte, wenn der erste die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte, wenn er z.B. nicht in der Lage war, Dürren oder Überschwemmungen vom Dorf fernzuhalten. Als Geister konnten auch die Seelen Ertrunkener oder Ermordeter herumirren, oder Verstorbene, deren Familie sich unzureichend um sie kümmerte.

Die konfuzianische Oberschicht versuchte ebenso, wie später die kommunistischen Funktionäre, diesen “Aberglauben” zu überwinden und ihn durch die eigenen moralischen Lehren zu ersetzen. Tatsächlich fanden allmählich konfuzianische und daoistische Lehren Eingang in die Gedankenwelt der Bevölkerung und prägten Verhaltens- und Moralvorstellungen nachhaltig. Als Beispiel seien nur einige Sätze aus den Gesprächen des Konfuzius genannt: “Der Herrscher muß Herrscher sein, der Untertan muß Untertan bleiben, der Vater sei Vater, der Sohn Sohn” (XII.11); “Dem Edlen geht es stets vor allem darum, dem Leben einen festen Grund zu geben. Ist der Grund gefestigt, eröffnet sich der rechte Weg. Ehrfurcht gegenüber den Eltern und Achtung gegenüber den älteren Brüdern- das sind die Wurzeln der Sittlichkeit” (I.2) ; “Der Edle haßt den Gedanken, die Welt zu verlassen, ohne etwas geleistet zu haben, was bleibender Anerkennung wert ist” (XV.20); “Der gewöhnliche Mensch kann sich in kleinen Dingen auskennen, aber mit großen Aufgaben kann er nicht betraut werden” (XV.34) ; “Nur die wirklich Klugen und die wirklich Dummen ändern sich nicht” ((XVII.3); ” In den großen Fragen des Lebens muß sich der Mensch an die Grenzen halten, die ihm gesetzt sind. In kleinen Dingen kann er etwas großzügiger sein” (XIX.11)

Viele solcher Sprüche sind nicht nur für die Mandarine und Gelehrten, die diese Schriften intensiv studiert hatten, sondern auch für die einfachen Bauern, Handwerker und Fischer zur Lebensmaxime geworden und bestimmten ihren Platz in der Gesellschaft.

Trotzdem blieben Konfuzianismus und Daoismus immer mehr die Staatslehren und die Ideologie der Oberschicht. Den Vorstellungen des normalen Vietnamesen entsprach in viel stärkerem Maße der Buddhismus, der ebenfalls in den ersten Jahrhunderten nach Christus Eingang in Vietnam fand. Im Unterschied zu anderen Reichen in Südostasien, wo der Theravada-Buddhismus (Kleines Fahrzeug) die Oberhand gewann, dominierte in Giau Chi der Mahayana-Buddhismus. (Großes Fahrzeug) Seine geringeren Anforderungen an den Einzelnen, seine trostspendende Moral, die für ein leidvolles Leben Belohnung in einer späteren Welt versprach, seine hilfreichen Bodhisatvas, die im rechten Moment eingriffen, und vor allem seine Fähigkeit, andere Riten und Kultvorstellungen in sich aufzunehmen und mit ihnen zu verschmelzen, sicherten ihm eine schnelle Verbreitung. In den mittleren und südlichen Regionen, die damals noch nicht zu Vietnam gehörten, kam der Buddhismus über Funan, Chenla, Kambodscha und zwar stärker als Theravada-Buddhismus ( Hinayana). Die in den “vier edlen Wahrheiten” formulierten Grundthesen des Buddhismus ließen sich mit den Vorstellungen der Vietnamesen und den Forderungen von Konfuzianismus und Daoismus recht gut in Einklang bringen:

  • jedes Dasein ist Leiden,
  • Ursprung des Leidens ist das Begehren, das zur Wiedergeburt führt,
  • die Unterdrückung des Begehrens führt zur Erlösung aus dem Kreislauf von Leiden und Wiedergeburt;
  • der Weg ist der edle Pfad (rechter Glaube, rechtes Wollen, rechtes Wort, rechtes Tun, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Denken, sich versenken)

Ziel ist das Eingehen ins Nirvana.

Sie waren im Einklang mit der bis in die Gegenwart weitverbreiteten altruristischen Herangehensweise, daß der Mensch durch Opfer für die Familie, das Dorf , das Heimatland hohe Achtung und Anerkennung gewinnt, daß sein erstes Ziel nicht die Selbstverwirklichung und die Durchsetzung seiner eigenen Interessen durch aktives Handeln, sondern die Aufopferung für die Gemeinschaft ist. Die Mahayana-Variante fand deshalb mehr Verbreitung als die Hinayana-Richtung, weil sie an den Einzelnen nicht so hohe Anforderungen stellt und ihm erlaubt, ein normales Leben in der Familie zu führen und trotzdem den Weg zur Erlösung zu suchen. Diejenigen, die als Mönche und Nonnen in den Klöstern leben, genießen höchsten Respekt. Sie halten sich streng an die Gebote und Verbote,. Doch die Mehrzahl der Vietnamesen geht selbst mit den buddhistischen Grundregeln für Laien großzügig um. Das gilt auch für die 5 Verbote, nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht ehezubrechen, nicht zu lügen und keinen Alkohol zu trinken. Ein Schwein zu schlachten oder bei einer Feier Reisschnaps zu trinken, ist für die meisten kein Problem. Wie bei vielen Christen in Deutschland ist die bewußte Ausübung von Glaubensriten an besondere Tage gebunden, wie die Geburt eines Kindes, die Hochzeit oder der Tod eines Angehörigen, oder Buddhas Geburtstag sowie andere buddhistische Feiertage . Aber man erbittet auch die Hilfe Buddhas und der Mönche, wenn man ein Haus bauen, ein neues Geschäft eröffnen, eine Prüfung ablegen oder eine große Reise unternehmen will. Oder wenn ein Kind krank ist oder eine Dürre die Ernte bedroht. Man geht aber auch in die Pagode, wenn der Familie ein besonderes Glück widerfahren ist.

Im vorkolonialen Vietnam bestanden Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus nebeneinander, obwohl die konfuzianischen Lehren die meiste Zeit dieGrundpfeiler der Staatsordnung bildeten.

Die Bevölkerung aber nahm Teile aller drei Lehren auf und verband sie mit der Ahnenverehrung und dem Animismus. Nur Fachleute können heute noch die Herkunft der einzelnen Riten und Regeln erklären. Häufig sind diese im Laufe der Jahrhunderte miteinander verschmolzen. Begünstigt wurde dieser Prozeß durch die Tatsache, daß bestimmte Elemente in allen Lehren in gleicher oder ähnlicher Weise vorhanden waren, z.B. das Streben nach Harmonisierung, das Verständnis des Einzelnen als Teil einer Gemeinschaft und die Überordnung der Gemeinschaftsinteressen über die Interessen des Individuums, die Achtung vor dem Alter, die Anerkennung einer Hierarchie und unumstößlicher Ordnungsprinzipien in der Gesellschaft, die Akzeptanz eines bestimmten Platzes in der Gesellschaft. So war das Nebeneinander und Miteinander der unterschiedlichen religiösen und geistigen Strömungen ohne größere Konflikte möglich. Die Bevölkerung gab dem Druck der offiziellen Lehren dahingehend nach, daß sie diese mit den bisherigen Auffassungen verband. Die Obrigkeit tolerierte ihrerseits eine Integration von Animismus und Ahnenkult in Konfuzianismus und Buddhismus. Solche Erscheinungen sind keineswegs ungewöhnlich, hat doch auch das Christentum viele “heidnische” Sitten und Bräuche in sich aufgenommen und sie mit christlichen Inhalten verbunden, wie z.B. beim Osterfest. In Vietnam blieb dieser Prozeß aber nicht auf die Integration von Elementen von Ahnenverehrung, Natur- und Geisterglauben sowie Stammesriten beschränkt, sondern vollzog sich auch durch Vermischung, wechselseitige Durchdringung und Ergänzung von Weltreligionen und philosophischen Lehren. Der Synkretismus hat in Vietnam lange Traditionen und er bewirkte zwei Dinge. Erstens haben Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus immer ein eigenes vietnamesisches Gesicht bewahrt und zweitens bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen der offiziellen Lehre und ihrer Widerspiegelung in der Bevölkerung.

Die vor allem auf dem Konfuzianismus beruhenden Denk- und Verhaltensweisen, bestimmten die politischen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Strukturen Vietnams und trugen in den ersten Jahrhunderten der Entwicklung des vietnamesischen Staates entscheidend dazu bei, daß dieser sich zu einem der mächtigsten Reiche in der Region entwickeln konnte. Wie in China wurden sie jedoch später immer mehr zum Hindernis für Fortschritt und Veränderung. Wo sie erst mit ihren Prinzipien von Ordnung, Gemeinschaftssinn, Moral, Pflichterfüllung und Einordnung in die Gemeinschaft wichtige Voraussetzungen für politische und ökonomische Stabilität geschaffen hatten, wurden sie später mit ihrer Isolationspolitik, dem Festhalten an überlebten Denkweisen, der Nichtzurkenntnisnahme der Veränderungen in der Welt zu einem schwerwiegenden Hemmnis für die Entwicklung Vietnams.

Der Hinduismus konnte in Giao Chi und den ersten vietnamesischen Staaten nicht Fuß fassen, obwohl seine Ideen nicht völlig ohne Einfluß blieben.

Wenig untersucht ist bisher, warum der Islam, der ab 12. Jahrhundert vor allem in Malaya und den Inselreichen Südostasiens an Einfluß gewann, in Vietnam kaum Wirkung erzielte.

Anscheinend setzten ihm Konfuzianismus und Buddhismus gleichermaßen Grenzen. Wahrscheinlich fand die Religion, deren Vordringen stark mit Handel und Händlern verbunden war, in der traditionellen bäuerlichen Gesellschaft Vietnams nicht den geeigneten Boden. Nicht zufällig dürfte er gerade bei den Cham, die hervorragende Seefahrer und Händler waren, Anklang gefunden haben. Deren mächtiges Reich Champa (im heutigen Mittelvietnam) verlor jedoch bald an Bedeutung und büßte im 17. Jahrhundert seine Selbständigkeit ein. Heute leben in Mittel- und Südvietnam einige Zehntausend Muslime, Sie spielen weder im Lande noch in der internationalen Islam-Bewegung eine größere Rolle.

2) Das Vordringen des Christentums

Bedeutsam war für Vietnam das Vordringen des Christentums, d. h. vor allem des Katholizismus. Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden die ersten Missionsstationen in Mittelvietnam. Vor allem portugiesische, spanische und französische Missionare begannen mit der Missionierung. Unter ihnen war der französische Jesuit Alexandre de Rhodes, auf den die vietnamesische Schrift mit lateinischen Buchstaben (quoc ngu), der erste Katechismus in vietnamesischer Sprache und ein Vietnamesisch-Lateinisch-Portugiesisches Wörterbuch zurückgehen. Ihre Aktivitäten riefen unterschiedliche Reaktionen hervor. Bei den Herrschenden stieß die neue Religion auf Mißtrauen und Ablehnung, erkannten sie doch, daß diese eine Gefahr für das gesamte gesellschaftliche System darstellte. Der Katholizismus war nicht bereit, sich in bestehende Ideologien zu integrieren, sondern wollte sie überwinden und ersetzen. Den vietnamesischen Herrschern gestand er nicht das Mandat des Himmels, d.h. eine Gottgleichheit zu, sondern er akzeptierte nur einen Gott. Damit stellte er die politischen Strukturen und das bestehende Hierarchiesystem grundsätzlich in Frage. Andererseits schätzten manche Könige und Mandarine das Wissen und Können der Missionare auf medizinischem, naturwissenschaftlichem, militärtheoretischem Gebiet. Und Nguyen Anh (der spätere Kaiser Gia Long) nutzte die Zusammenarbeit mit dem Bischof von Adran, um die Unterstützung Frankreichs im Kampf gegen die “Tay Son” zu erlangen. Als Kaiser behandelte er, wie Le Thanh Khoi schreibt, westliche Besucher freundlich, empfand für die christliche Religion jedoch “nur Verachtung und Haß”. Und seinem Sohn und Nachfolger Minh Mang empfahl er auf dem Totenbett, die Europäer und besonders die Franzosen gut zu behandeln, ihnen aber keine beherrschende Stellung einzuräumen.

Die meisten konfuzianischen Gelehrten lehnten das Christentum ebenso ab, wie sie die westliche Wissenschaft und Kultur ablehnten. Sie fühlten sich den westlichen “Barbaren” überlegen. Einige wenige- und das waren sicher nicht die schlechtesten- erkannten, daß die wissenschaftlich-technische und geistig-kulturelle Entwicklung, die sich vor allem in Europa und Nordamerika vollzog, auch eine Herausforderung und eine Chance für Vietnam bedeuteten. Während die meisten Gelehrten die Entwicklung in Europa nicht zur Kenntnis nahmen oder für Vietnam nicht als relevant betrachteten, waren es meist Katholiken, die über diesen Schatten springen konnten. Hier nur zwei Beispiele:

Nguyen Truong To, 1828 in Nghe Anh geboren, der eine französische Klosterschule besucht und mehrere Länder Asiens und Afrikas bereist hatte, richtete zwischen 1863 und 1871 (also zu einer Zeit, als die koloniale Unterwerfung Vietnams schon begonnen hatte, aber der größte Teil des Landes noch unabhängig war), 15 Bittschriften an den Kaiserhof, in denen er radikale Reformen vorschlug. Die wesentlichsten waren:

  • Kooperation mit den westlichen Staaten,
  • Trennung der Verwaltung von der Justiz,
  • Verringerung der Beamtenzahl und Erhöhung ihrer Bezüge, um die Korruption einzudämmen;
  • Einführung des Studiums der exakten Wissenschaften;
  • Herausgabe von Zeitungen;
  • Übersetzung europäischer Bücher und Entsendung von Studenten nach Europa;
  • Modernisierung der Landwirtschaft und Entwicklung der Industrie, des Handels und des Bergbaus unter Mitwirkung europäischer Fachkräfte;
  • Reorganisierung und Modernisierung der Armee;
  • Anlage von strategischen Straßen;
  • Größere fiskalische Ordnung und Gerechtigkeit durch ein neues Steuersystem;
  • Protektionismus zur Förderung von einheimischem Handwerk und Industrie.

Zweites Beispiel: Truong Vinh Ky (1837-1898), ein hervorragender Wissenschaftler, Journalist, Übersetzer, für seine Werke von der Französischen Akademie und anderen Gremien hochgeehrt. Er erhielt eine hervorragende Ausbildung an einer Klosterschule in Penang, studierte Philosophie und Literatur, verfaßte wissenschaftliche Arbeiten auf den Gebieten der Geographie und Sprachwissenschaft, nahm an Audienzen bei Napoleon III und dem Papst teil, war für den vietnamesischen Kaiserhof als Dolmetscher in den Verhandlungen mit Frankreich tätig. In Vietnam war er jedoch umstritten, denn er war gläubiger Katholik. Und er diente den französischen Kolonialbehörden. So konnten diese sein wohl berühmtestes Buch “Reise nach Tongking im Jahre 1876” unmittelbar bei der Unterwerfung dieser Region nutzen. Daß Kaiser Dong Khanh (1885-1889) ihn zum Berater des Kaiserhofes ernannte, schadete seinem Ruf mehr als es ihm nützte, denn Dong Khanh war der erste Kaiser von Frankreichs Gnaden.

In der öffentlichen Meinung Vietnams entstand eine unheilvolle Verquickung zwischen Katholiken, Anhängern moderner wissenschaftlicher und geistiger Ideen und Kolonialismus, die zwar nicht völlig falsch, in ihrer weitgehenden Gleichsetzung aber verhängnisvoll war. Sie bildete die Basis für Christenverfolgungen im 19.Jahrhundert und für die Spannungen zwischen Christen und der Staatsgewalt, aber auch dem übrigen Teil der Bevölkerung, die bis in die Gegenwart nicht völlig überwunden sind.

Daß das Christentum auch für Teile der einfachen vietnamesischen Bevölkerung attraktiv war, lag einerseits am Inhalt der neuen Lehre, andererseits aber auch an der Unzufriedenheit mit der eigenen Situation. Die Missionare erklärten den Bauern, daß sie sich keineswegs widerspruchlos in ihre elende Lage fügen müßten und daß die bestehende Ordnung keineswegs “gottgewollt” und unerschütterlich sei.. Christus der Erlöser war anziehend, So verwundert es nicht, daß manche Aufständische bei den Missionaren ideelle und materielle Unterstützung suchten und nicht selten auch erhielten. So wandte sich Le Van Khoi, der sich 1833 im Mekongdelta gegen den Kaiserhof erhob, direkt mit einem Hilfsersuchen an Monsignore Tabert, den Bischof von Cochinchina, und gewann damit die Unterstützung vieler Katholiken

Heute sind ca 8-9% der Vietnamesen Christen, überwiegend Katholiken. Das Christentum konnte weder den Konfuzianismus noch den Buddhismus verdrängen und auch nicht Animismus und Ahnenkult. Doch das Christentum brachte eine neue Situation in die geistig-ideologische Auseinandersetzung in Vietnam. War diese zwischen den verschiedenen weltanschaulichen Richtungen bisher nicht zuvorderst offen und direkt geführt worden, sondern eher mit der feinen Klinge und mehr mit dem Ziel andere Auffassungen zu integrieren und zu assimilieren, stellte sich das Christentum in Vietnam bewußt und offensiv gegen alle anderen Religionen und ideologischen Lehren. Sein Bruch mit den bisherigen Theorien, Glaubensrichtungen und Riten war sehr weitgehend, wenn auch nicht vollkommen. Synkretismus entsprach in Vietnam nicht dem Ziel der Verfechter des Christentums. Sie grenzten sich deutlich ab.

3) Neue Ideen und Denkweisen zu Beginn des 20.Jahrhundert

Der bewußte Bruch mit traditionellen Denkweisen und die Übernahme neuen Gedankenguts, das nicht auf die Religion beschränkt blieb, machte eine neue Elite offener für internationale Entwicklungen und neue fortschrittliche Ideen. Da die konfuzianisch geprägten Gelehrten in der Regel die Zusammenarbeit mit den neuen Behörden ablehnten, bemühten sich diese vor allem unter den Schülern der Klosterschulen Dolmetscher, Beamte und Hilfskräfte aller Art zu finden. Die Abwendung von den alten Glaubens- und Moralvorstellungen und die Zusammenarbeit mit den Kolonialbehörden ( obwohl letzteres nur auf einen kleinen Teil der Katholiken zutraf), hatte eine gewisse Isolierung zur Folge. Für die meisten Vietnamesen blieb das Christentum lange eine fremde Religion und die Christen galten oft als Verräter an der nationalen Tradition und Handlanger der fremden Herren.

Mit den sozial-ökonomischen Veränderungen Anfang des 20.Jahrhundeerts vollzog sich auch ein geistig-kultureller Wandel. In Vietnam entstanden eine kaum vorstellbare Vielfalt des politischen und geistig-kulturellen Lebens. Zahlreiche Parteien, Organisationen, Bewegungen, Vereine, Gesellschaften, Sekten und andere Vereinigungen wurden gegründet. Ihr Spektrum war außerordentlich breit. Als wichtige Richtungen wären zu nennen:

  • Reformbewegungen, wie die Dong-Du-Bewegung (“Zug nach dem Osten”, die sich an Japan orientierte) oder die Gesellschaft zur Wiederherstellung Vietnams. ( In beiden spielte Phan Boi Chau eine hervorragende Rolle) oder die Bewegung zur Abschaffung der Kuliarbeit in Mittelvietnam
  • Bildungsvereine: der berühmteste war das Tongking -Institut,
  • Politische Parteien, genannt seien hier nur die Konstitutionalistische Partei, die Großvietnamesische Partei, die Nationale Partei Vietnams (bekannt als VNQDD), die Revolutionäre Partei Vietnams, die Revolutionäre Partei des Jungen Vietnam und die Kommunistische Partei Indochinas
  • Gewerkschaften und Massenorganisationen; am bekanntesten wurde die 1925 gegründete Liga der Revolutionären Jugend Vietnams, aus der 1930 die Kommunistische Partei hervorging
  • Handelsgesellschaften, die die ökonomischen und politischen Interessen vietnamesischer Unternehmer vertraten.
  • Geheimgesellschaften, z.B. Himmel und Erde in Südvietnam
  • Religiöse Sekten, wie die Hoa Hao und die Cao Dai
  • Terrororganisationen ( eine versuchte z.B. 1916 die französische Garnison in Hanoi zu vergiften; größeren Widerhall fand der Bombenanschlag auf Generalgouverneur Merlin 1924 in Kanton.

Organisationsformen, weltanschauliche Basis und Ziele dieser Organisationen waren sehr unterschiedlich, die Strukturen instabil.. Man orientierte sich an Vorbildern in Japan, Frankreich, China und der Sowjetunion. Die Forderungen reichten von vorsichtigen Reformen bis zur radikalen Revolution. Fast allen war die Abwendung von bisherigen Lehren und die Hinwendung zu “westlichen” Ideologien gemeinsam, wobei die Verhaftung in der Tradition zumeist viel größer blieb, als die Akteure selbst wahrhaben wollten. Bis heute sollte man sich hüten, Parteien und Organisationen in Vietnam mit ähnlichen in Europa gleichzusetzen, auch wenn sie anscheinend in Zielen und Struktur vergleichbar sind. Ihr Fundament bestand in der Regel nur aus wenigen Säulen: Reform oder Revolution; friedliche Veränderung oder Gewaltanwendung; Monarchie oder Republik, Wahrung traditioneller Sitten und Bräuche oder deren Überwindung; Zusammenarbeit mit der französischen Kolonialmacht bei der Entwicklung Vietnams oder deren Vertreibung. Die Rückkehr zu den vorkolonialen Zuständen wurde kaum noch gefordert. Eine neue nationale Identität bildete sich heraus, deren Grundziele waren nationale Unabhängigkeit, sozialer, ökonomischer, wissenschaftlicher, geistig-kultureller Fortschritt, internationale Öffnung. Diese Ziele wollte man mit Hilfe Frankreichs, mit Hilfe der asiatischen Brüder (Japan und China) oder mit Hilfe des internationalen Kommunismus erreichen. Letztere Richtung gewann allmählich ein Übergewicht, weil die französische Kolonialverwaltung den einheimischen Kräften kaum entgegenkam, Japan auf französischen Druck die Hilfe für die vietnamesischen Nationalisten einstellte und die bürgerlich-nationale Bewegung in China nach dem Tode Sun Jatsens einen Kurswechsel vollzog, so daß sich die Kommunisten als konsequenteste Vertreter der nationalen Interessen profilieren konnten. Sie knüpften geschickt an der alten Strategie an, alle Widersprüche und Gegensätze zugunsten der Interessen der Allgemeinheit, in diesem Falle der Überwindung der Kolonialherrschaft zurückzustellen. So wurde Kapitalismus für viele zum Synonym für koloniale Unterdrückung und Kommunismus für nationale Unabhängigkeit. Deshalb entschieden sich 1945 die antikolonialen Kräfte mehrheitlich für die von den Kommunisten geführte Viet Minh. Die meisten Vietnamesen hatten nie ein Buch von Marx oder Lenin gelesen. Sie entschieden sich auf der Grundlage des praktischen Kampfes der Kommunisten gegen die koloniale Unterdrückung, nicht auf Grund der kommunistischen Theorie.

Unter diesen Umständen waren die unterschiedlichsten Kräfte gezwungen, ihre Position zu bestimmen. Nehmen wir als Beispiel die Cao Dai.

Diese Sekte wurde 1919 in Südvietnam von Ngo Van Chieu gegründet. Sie nimmt für sich in Anspruch das “Beste und Edelste aus allen Religionen und Lehren der Welt” in sich aufgenommen und weiterentwickelt zu haben. Dabei gelten Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus als die Grundlage (die “3 Lehren”) Ahnenverehrung, Gott-Glaube, Geisterglaube, Humanismus sind Teil der Cao-Dai- Glaubensinhalte ( 5 Wege) . Zu den Heiligen der Cao Dai gehören die unterschiedlichsten Persönlichkeiten: Moses, Jesus Christus, Buddha, Konfuzius, Mohammed, Victor Hugo, Jean d´Arc, Johannes der Täufer, Sun Jat Sen, Winston Churchill, Julius Caesar, der vietnamesische Prophet Tran Tinh , Tran Vu (der daoistische Gott der Finsternis) u.a. Das Leben der Cao-Dai Anhänger verläuft nach strengen Regeln. Die Sekte ist nach dem Vorbild eines konfuzianischen Staatswesens organisiert. Die Cao Dai erlangte im Südwesten Vietnams (Zentrum ist bis heute die Provinz Tay Ninh) beträchtlichen Einfluß. Während und nach dem 2. Weltkrieg baute sie eine eigene schlagkräftige Armee auf und trotzte den Japanern und Franzosen weitgehende Autonomie für ihr Gebiet ab. Im Kampf gegen die französische Kolonialmacht und die amerikanische Einmischung kam es in der Praxis wiederholt zum Zusammengehen oder zumindest zur gegenseitigen Duldung mit der Viet Minh und der FNL , obwohl die Cao Dai den Kommunismus ablehnte und Aktivitäten kommunistischer Agitatoren in ihrem Einflußgebiet nicht zuließ. Nach der Gründung der Sozialistischen Republik Vietnam verlor die Cao Dai die meisten Sonderrechte bei der Verwaltung ihrer Gebiete, trotzdem haben die Beziehungen zwischen regionalen Staatsorganen und Cao-Dai-Führung immer noch einige Spezifika.

4) Zum Verständnis von Fortschritt und Tradition in Vietnam

Wie bereits festgestellt, war die vietnamesische Gesellschaft in der Vergangenheit meist mehr durch Beharrungsvermögen und Konservatismus und weniger durch plötzliche drastische Umstürze geprägt. Bei notwendigen Veränderungen waren vorsichtige Reformer meist erfolgreicher als radikale Revolutionäre. Ho Quy Ly (15. Jahrhundert) und die Tay-Son- Herrscher (18.Jahrhundert) scheiterten mit ihren Versuchen, die Gesellschaft mit einem Schlage völlig umzuwälzen. Ersterer wurde bald gestürzt, letztere verfielen nach kurzer Zeit in alte Strukturen. Aufständische und Reformer wollten bestehende Gesellschaftssysteme meist nicht zerstören, sondern von ihren Fehlern und Schwächen befreien.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand eine neue geistige Elite, die sich teilweise abrupt von dieser Herangehensweise und von alten Gesellschaftsvorstellungern trennte. Sie strebte deren Überwindung durch eine Revolution oder umfassende Reform an. Diese neue Elite orientierte sich an westlichen Idealen von Freiheit, Menschenwürde und Demokratie und empfand die konfuzianische Moral als Fessel. Die ländlichen Gebiete, wo 80% der Bevölkerung lebten, wurden davon jedoch nur partiell erfaßt. Die Kolonialherrschaft hat das Leben und Denken der Bauern in den Dorfgemeinschaften nicht grundsätzlich verändert . Ihre Vorstellungen von einem besseren Leben wurden noch immer mehr von traditionellen Modellen als von westlichen Visionen geprägt. Wer die Bauern gewinnen wollte, mußte dieser Tatsache Rechnung tragen. Die größte Stärke der Kommunisten bestand darin, daß sie in der praktischen Politik moderne Ideologie und traditionelle Denkweisen verbanden. Sie verstanden es, den internationalen Aufschwung der kommunistischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes gegen koloniale Unterdrückung, für nationale Unabhängigkeit und die Lösung dringender sozialer Probleme zu verbinden. Die Sowjet-Bewegung von Nghe Tinh 1930/31 , wo sie in zwei Provinzen Mittelvietnams für einige Monate die Arbeiter- und Bauernmacht errichteten, lehrte sie, daß ein gesellschaftlicher Umbruch nur erfolgreich sein konnte, wenn er gleichermaßen auf neuen Ideen und der traditionellen Basis fußte. In der Tagespolitik konzentrierte sie sich auf drei Schwerpunkte: Unabhängigkeit, Freiheit, Wohlergehen. Zu deren Verwirklichung war das gemeinsame Wirken von Kommunisten, Buddhisten, Konfuzianern u.a. notwendig und möglich. Die Menschen mußten sich nicht für eine Ideologie entscheiden. Das Verhältnis von Konfuzianismus und Kommunismus in Vietnam ist ohne Zweifel ein sehr interessantes Problem, das aber nicht in wenigen Worten zu klären ist.

In der Gegenwart ist eine neue Lage entstanden. Die seit Mittte der achtziger Jahre praktizierte Reformpolitik und der Übergang zur Marktwirtschaft haben in Vietnam einen Prozeß in Gang gesetzt, der auch in anderen Entwicklungsländern zu beobachten ist. Der rasche wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Fortschritt verändert die gesamte sozialökonomische und gesellschaftliche Situation entscheidend. Auch Ideologie und Kultur sowie Sitten und Bräuche sind tiefgreifenden Wandlungen unterworfen. Jahrhunderte alte Denk- und Handlungsweisen werden in Frage gestellt, bisherige Wertesysteme verlieren ihre Gültigkeit und Akzeptanz. Die Regierung Vietnams und die Kommunistische Partei haben diese Konsequenz durchaus erkannt und sich mit der Politik der “Erneuerung” grundsätzlich zu diesen Veränderungen bekannt. Der “Vater” der Erneuerung, Nguyen Van Linh erklärte eindeutig: “Will man die Erneuerung im Leben haben, muß man zuerst die Erneuerung im Denken erreichen.”

Anderererseits ist wie in anderen Ländern Südostasien das Streben groß, die traditionellen Werte zu erhalten, die Veränderungen nicht als absoluten Umbruch zu gestalten, sondern mehr als Überwindung des Alten durch das Neue im Sinne der positiven Aufhebung entsprechend der Hegelschen Dialektik. Einige verbinden den Begriff Fortschritt einseitig mit dem aus dem Westen kommenden ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt , während sie unter Tradition überwiegend die sozialen, geistigen und kulturellen Werte der eigenen Vergangenheit verstehen. Der Widerspruch, der sich in vielen Kontroversen Südostasien-Europa in den letzen Jahren gezeigt hat (einschließlich der Diskussion um Demokratie und Menschenrechte), hat eine Ursache darin, daß man mit der Entwicklung der modernen Wirtschaft einerseits begierig auch “westliche Kultur” und Lebensweise aufnimmt, andererseits die Zerstörung bisheriger Wertesysteme verhindern möchte. In Vietnam kommt außerdem der Spagat zwischen dem fortschreitenden Übergang zur Marktwirtschaft und dem Fortbestehen der sozialistischen Staatsordnung hinzu. Die Bestrebungen, neues Denken mit traditionellen Denk- und Handlungsweisen zu verbinden, den abrupten Bruch zu vermeiden und Bewährtes auf den neuen Weg mitzunehmen, hat auch etwas mit der Furcht davor zu tun, die eigene nationale Identität zu verlieren und damit die stärkste Motivation aufzugeben, die sich über Jahrhunderte in schwierigen Situationen bewährt hat.

In der gegenwärtigen Diskussion um Tradition und Fortschritt in Vietnam sind folgende Punkte besonders beachtenswert:

  1. Die meisten Vietnamesen suchen mehr die Harmonie, als die Konfrontation. Sie ziehen eine gemeinsame Lösungsfindung bzw. Regulierung der konfrontativen Auseinandersetzung vor. Selbst eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft wird nicht als absolute Abwendung vom Bisherigen verstanden. Man sucht fließende Übergänge. Das Streben nach Kompromißlösungen, bei denen alle Seiten ihr Gesicht wahren können, ist typischer für vietnamesisches Herangehen an Konfliktregelungen als die Zuspitzung der Gegensätze. Man fürchtet tiefe Umbrüche, bevorzugt vorsichtige Veränderungen und pragmatische Lösungen. Das ist kein Verzicht auf Konfliktbewältigung, sondern eine andere Methode. Es ist auch keine Schwäche im Ringen um die eigenen Ziele. Das wird jeder bestätigen, der in Vietnam einmal Verhandlungen geführt hat.
  2. Die vietnamesische Denkweise fordert nicht das absolute Entweder-Oder! Die meisten Vietnamesen denken nicht in theoretischen, sondern in pragmatischen Kategorien. Für sie ist manches möglich, was Europäer für unvereinbar halten, z.B. eine Verbindung von Sozialismus und Marktwirtschaft So wie sie den Synkretismus zwischen religiösen Lehren für möglich oder gar selbstverständlich halten, gilt das auch in hohem Maße für weltanschauliche und politische Auffassungen. In einem Artikel über die Religion und ihre Rolle bei der Entwicklung der Gesellschaft schrieb der Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften in Ho Chi Minh Stadt, Mac Duong: “Feuer und Wasser sind grundsätzlich verschieden. Aber das Feuer kann genutzt werden, um das Wasser zu erwärmen und das Leben der Menschen zu bereichern. Wasser ist notwendig, um ein Feuer zu löschen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit können beide bei einem guten Management und Kontrolle für den Menschen nützlich sein.” Versuche der Kommunistischen Partei, den Marxismus-Leninismus zur einzig anerkannten Ideologie zu machen, so auch in der Verfassung von 1980 formuliert, und andere weltanschauliche oder religiöse Positionen als falsch, rückständig oder Aberglauben abzustempeln, stießen bei vielen Menschen auf Unverständnis und wurden bald wieder korrigiert .Ein Vietnamese kann durchaus Buddhist, Konfuzianist und Kommunist sein und als selbständiger Unternehmer auf dem Pfad der Marktwirtschaft wandeln, ohne sich als gespaltene Persönlichkeit zu fühlen.. Begriffe, wie Sozialismus, Kommunismus, Kapitalismus, Fortschritt, Marktwirtschaft, Demokratie, Menschenrechte haben für die vietnamesischen Arbeiter und Bauern, aber auch für Parteifunktionäre und Oppositionelle häufig andere Inhalte und Schwerpunktsetzungen als für europäische Politiker, Wissenschaftler oder Entwicklungshelfer. Sozialismus/Kommunismus wurde lange Zeit mit nationaler Unabhängigkeit, Kapitalismus dagegen mit Kolonialismus und Fremdherrschaft in Zusammenhang gebracht. Freiheit wurde vor allem als Freiheit der Nation und weniger als Freiheit des Individums verstanden.
  3. Daß Vietnam am Sozialismuskonzept festhält, bedeutet keinesfalls, daß es noch den alten Vorstellungen der sozialistischen Gemeinschaft folgt. Sozialismus heißt in Vietnam heute ein starkes Land, ein wohlhabendes Volk, eine gerechte und zivilisierte Gesellschaft, so der damalige Generalsekretär Do Muoi auf dem VIII. Parteitag. Das ist nicht unbedingt sozialistische Ideologie, diese Thesen könnten auch als konfuzianisches Ideal stehen. Der Marxismus-Leninismus als einzige Ideologie wird nicht mehr gefordert. In der Wirtschaft, Politik, Kultur und Ideologie gibt es inzwischen große Freiräume, die ausgiebig genutzt werden. Auch die Kommunistische Partei selbst ist in den Reformprozeß einbezogen.
  4. Die Öffnung des Landes hat dazu geführt , daß die ausländischen Einflüsse stark angewachsen sind, auch im außerökonomischen Bereich. Das führt immer wieder zu Auseinandersetzungen. Die einen machen die ausländischen Einflüsse für das Anwachsen sozialer Konflikte, für Kriminalität, zunehmenden Drogenkonsum, Verbreitung von pornographischer Literatur , wachsendem Eigennutz, überhaupt für den Verfall von Moral und Sitten verantwortlich. Die anderen sehen in Konservatismus und Traditionalismus ein wesentliches Hindernis für ein schnelleres Tempo der Reformen.. Die einen geißeln die Vergöttlichung ausländischer Waren, die Nachahmung westlicher Verhaltensweisen als Verrat an der nationalen Identität und der nationalen Werte und als unmoralisch.. Die anderen bezeichnen Hierarchie- und Gemeinschaftsdenken als unzeitgemäß und als Hemmnis für die Entwicklung freier selbstbewußter Persönlichkeiten und einer modernen Gesellschaft.. Fakt ist, daß die Öffnung des Landes nicht nur positive Auswirkungen hat (z.B.Zunahme von Aids, von Drogen), aber sie ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Verwirklichung der Reformpolitik. Selbst während der Kampagne gegen negative ausländische Einflüsse ist niemals ernsthaft erwogen worden, die Öffnung rückgängig zu machen. Die Regierung setzt voll auf internationale Öffnung und Integration.
  5. Der Zusammenprall zweier Kulturen, der infolge der Öffnung verstärkt stattfindet, führt unvermeidlich zu Konflikten. Hier ist Offenheit und Toleranz von allen Seiten gefordert. Es nützt wenig, eine der beiden Seiten zu idealisieren oder zu verteufeln. Entwicklung interkultureller Kontakte, Verbreitung konkreten Wissens über andere Kulturen, Achtung anderer historischer Entwicklungswege wird dazu führen, nicht nur Gegensätze, sondern auch Gemeinsamkeiten festzustellen. Übrigens ist die Bereitschaft zu Toleranz und Akzeptanz des Andersseins bei Vietnamesen häufig größer als bei ausländischen Besuchern.
  6. Tatsächlich vollziehen sich in Vietnam gegenwärtig Prozesse, die bisherige Moralvorstellungen und Wertsysteme stark verändern und teilweise völlig in Frage stellen. Am auffälligsten ist der Übergang vom wir zum ich , vom Gemeinschaftsdenken zur Ausprägung der Rolle des Individuums. Selbstlose Unterordnung unter die Interessen der Gemeinschaft ist nicht mehr unbedingtes muß, die Verwirklichung persönlicher Interessen notfalls auch gegen die Gemeinschaft nicht mehr grundsätzlich unmoralisch. Dieser Übergang vollzieht sich sowohl im Kleinen (in der Familie) als auch im Großen (in der ganzen Gesellschaft). Das Wort Freiheit macht einen allmählichen Bedeutungswandel durch. Früher war es fast ausschließlich ein Synonym für nationale Unabhängigkeit. Heute verstehen immer mehr Vietnamesen darunter auch die Freiheit des Individuums. Die persönliche Freiheit einzufordern, ist nicht mehr ehrenrührig. Vor allem die junge Generation hat die alten Schemata durch neue Denkweisen ersetzt. Trotzdem sollte man die Nachwirkungen Jahrtausende alter Traditionen nicht unterschätzen.

Zusammenfassend läßt sich feststellen:

Die Vietnamesen denken in vielen Dingen tatsächlich anders. Wer Vietnam und die Vietnamesen verstehen will, muß sich die Mühe machen, ihre Geschichte und Kultur zu studieren und die Ursachen und Hintergründe ihres Andersseins und Andersdenkens zu hinterfragen. Man wird dann schnell feststellen, daß viele Vorurteile und pauschale Vorstellungen nicht haltbar sind und mit wachsendem Interesse bestrebt sein, die Vielfalt religiöser und ethischer Lehren kennenzulernen und ihre Widerspiegelung in den Denk- und Verhaltensweisen zu ergründen. Zweitens wird man konstatieren, daß sich Vietnam gegenwärtig nicht nur in einem gravierenden sozial-ökonomischen Veränderungsprozeß befindet, sondern daß sich dieser auch auf den geistig-kulturellen Bereich ausdehnt. Wie in der Wirtschaft und im sozialen Bereich ist diese Entwicklung ein komplizierter und mit vielen Widersprüchen gepflasterter Weg. Drittens wird man feststellen, daß trotz manchen Andersseins, trotz unterschiedlicher Herangehensweisen und Denkansätze hinsichtlich der wesentlichen humanistischen Grundwerte weitgehende Übereinstimmung besteht. Die Voraussetzungen für eine Verständigung und gemeinsames Wirken sind also gut. Allerdings sollte man immer berücksichtigen, daß für einen Vietnamesen gegenseitiges Kennenlernen, die Schaffung eines Vertrauensverhältnisses, überprüfbare konkrete Arbeitsergebnisse und Verhaltensweisen, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit mindestens ebenso wichtig sind wie allgemeine Lehrsätze, Moral- und Gesellschaftstheorien, staatliche Gesetze oder religiöse und politische Dogmen.

Der Mondkalender

Nach alten Überlieferungen soll der Mondkalender im Jahre 2637 v. Chr. in Vietnam eingeführt worden sein. Er besteht aus Zyklen zu je 60 Jahren, die in jeweils 6 mal 10 himmlische Stämme unterteilt sind. Das Jahr 2000 ist danach das 16. Jahr im 78. Zyklus, d.h. das Jahr 4637 nach dem Mondkalender. Der Mondkalender zählt nicht nur 12 Mondmonate von jeweils 29 oder 30 Tagen, sondern außerdem 12 Mondjahre (12 Erd-Zweige), die nach Tierkreiszeichen benannt sind. Die fehlenden Tage werden ab und an durch Schaltmonate ergänzt. Ein neuer Zyklus beginnt, wenn der erste der 12 Tierkreise mit dem ersten der 10 himmlischen Stämme zusammentrifft. Die Berechnung ist also kompliziert, aber sie ist deshalb wichtig, weil die meisten vietnamesischen Feste nach dem Mondkalender gefeiert werden und weil viele Vietnamesen bis heute darauf achten, ob die Konstellation des Mondkalenders für private oder geschäftliche Entscheidungen günstig ist oder nicht. Auf Grund der beschriebenen Berechnungsmethode fällt das vietnamesische Neujahrsfest, das wichtigste Fest im Jahr nicht auf den ersten Januar, sondern auf einen Tag zwischen Mitte Januar und Mitte Februar.

Die Tierkreiszeichen lauten: Ratte (Maus), Büffel, Tiger, Katze (in China: Hase),Drache , Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Huhn (Hahn), Hund, Schwein. Das Jahr 2000 ist das Jahr des Drachens, 2001 das Jahr der Schlange, 2002 das Jahr des Pferdes. Jedem Jahr werden besondere Bedingungen zugeschrieben. So gilt das Jahr des Drachens als günstig für glänzende Erfolge auf allen Gebieten, aber auch als ein anstrengendes Jahr mit möglichen Niederlagen. Das Jahr der Schlange soll dagegen günstig für weise Entscheidungen, große Entdeckungen und Kompromisse sein. In diesem Jahr sollte man Lösungen für komplizierte Probleme suchen. Das Jahr des Tigers soll ein sehr unruhiges Jahr sein, in dem man mit großen Veränderungen in der Gesellschaft und privat rechnen muß. Das Jahr der Katze soll dagegen ein recht friedliches Jahr sein, das man zum Ausruhen und Feiern nutzen sollte.

Nach dem Mondkalender gibt es nicht nur günstige und ungünstige Jahre, sondern auch günstige und ungünstige Tage, die außerdem noch unterschiedlich sein können, je nachdem, in welchem Tierkreis man geboren ist. Wie die Europäer Horoskop und Sternzeichen nehmen auch die Vietnamesen diese Dinge mehr oder weniger ernst. Völlig unbeachtet werden sie sie nie lassen.