Humanitäre Hilfe Deutschlands im Vietnam-Krieg

Ein Paradigma für erfolgreiche “soft power diplomacy” Vortrag vor dem Humboldt Forum zu Berlin

Von Rolf Schulze, Botschafter a.D.

Sehr geehrte Frau von Richthofen, meine Damen und Herren,

heute Abend möchte ich Ihnen einige Geschehnisse aus dem fernen Vietnam, aus seiner Geschichte und dem Krieg, der das Land verwüstet hat, näherbringen. Ich möchte Ihnen auch berichten von dem Einsatz eines jungen deutschen Diplomaten, Hermann Freiherr von Richthofen, der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts an der deutschen Botschaft in Saigon eingesetzt war.

Beginnen möchte ich jedoch aus gegebenem Anlass mit der Gegenwart. Bundespräsident Steinmeier hat die internationale Lage mit den Worten beschrieben: „fast erscheint es, als sei die Welt aus den Fugen geraten“. Das Zitat entstammt Shakespeare’s Hamlet, im frühen 17. Jahrhundert verfasst. Die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Sorge der Menschen vor einem Verlust ihrer Lebensordnung ist aktueller denn je.

Krieg ist das Menetekel, das viele Länder und viele Menschen heute erneut erfasst hat. 

Dieses Szenario ist nicht neu. Lassen Sie uns auf der Zeitschiene etwas mehr als ein halbes Jahrhundert zurückgehen, ins Jahr 1966. Der Krieg in Vietnam war in vollem Gange und bestimmte die internationale Politik. 

Es waren die Jahre, in denen der junge deutsche Diplomat Hermann von Richthofen die Bühne der Diplomatie betreten hat.

Die meisten von uns haben das Bild des Großbotschafters von Richthofen vor Augen, der von 1988-1993 im Vereinigten Königreich und von 1993-1998 bei der NATO in Brüssel im Einsatz war. Nur wenigen ist bewusst, dass die Laufbahn von Hermann von Richthofen weit entfernt von Europa begann. Freiherr von Richthofen trat 1963 in den Auswärtigen Dienst ein. Nach kurzen Stationen in Boston und in der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes folgte ein Einsatz in einem Land, mit dem von Richthofen nach eigenem Bekunden nie gerechnet hatte: Südvietnam. An der damaligen Botschaft Saigon sollte er von 1966-1968 zu Zeiten des Vietnamkrieges die Durchführung der humanitären Hilfe der Bundesregierung verantworten. 

Das Vietnam, das Hermann von Richthofen und seine Frau kennenlernten, war ein ganz anderes Vietnam als das, das sich heute dem Beobachter darbietet. Damals ein vom Krieg gezeichnetes Land, heute ein recht erfolgreiches Schwellenland.

Seit Mitte der 80er Jahre und seit Beginn der marktwirtschaftlichen Reformen („Doi Moi“-Politik) hat Vietnam beachtliche wirtschaftliche Erfolge erzielt. Der soziale Fortschritt ist mit Händen zu greifen. Aufbruchsstimmung hat das Land erfasst. Privatwirtschaftliche Aktivitäten nehmen rasant zu. In den urbanen Ballungsgebieten hat es ein großer Teil der Bevölkerung zu bescheidenem Wohlstand gebracht, auch in den agrarischen Landesteilen hat Vietnam bei der Umsetzung der so genannten Millenniumsziele der Vereinten Nationen große Fortschritte gemacht (Armutsbekämpfung, gesundheitliche Grundversorgung, Schulbildung). Das Land ist der

Welthandelsorganisation WTO beigetreten und schickt sich an, zu den südostasiatischen Tigerstaaten aufzuschließen. Man blickt zuversichtlich in die Zukunft. Fast scheint es, als hätten die Menschen für sich einen Lebensentwurf gefunden, der dem unsrigen nicht ganz unähnlich ist: auskömmliche finanzielle Lebensbedingungen, gute Ausbildung der Kinder, hin und wieder eine Ferienreise, Grundbesitz, der Besitz eines Autos.

Was beeindruckt, ist der Fleiß der Menschen. Auch deutsche und ausländische Firmen haben dies wahrgenommen. Es ist kein Zufall, dass heute ca. 370 deutsche Unternehmen in Vietnam vertreten sind. Die Gesamtinvestitionssumme liegt bei 2 Milliarden Euro. Ein Abkommen über Freihandel und Investitionsschutz zwischen der Europäischen Union und Vietnam wurde 2019 unterzeichnet. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 2.000 Euro zählt Vietnam zu den sog. „Ländern mit mittlerem Einkommen“ (middle income countries).

Wie anders stellte sich die Lage in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dar, als Hermann von Richthofen in Saigon im Einsatz war. Geschichtsinteressierte und die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern, dass Vietnam damals die Schlagzeilen der Presse und die Agenda der internationalen Politik bestimmte. 

Um das Wirken von Herrmann von Richthofen in Saigon richtig einordnen zu können,             möchte         ich      erneut einen           kleinen zeitgeschichtlichen Exkurs einfügen.

Mit Ende des II. Weltkriegs wurde das Land von dem Joch der japanischen Besatzung befreit. Japan hatte Vietnam besetzt, weil es von seiner strategischen Bedeutung in Südostasien überzeugt war. Und weil es das Land als Kornkammer für seine im Pazifik operierenden Truppen betrachtete. Japan beutete die natürlichen Ressourcen Vietnams mit großer Härte für seine Kriegsführung aus. Millionen Hungertote unter den Vietnamesen waren die Folge.

Doch auch nach der Niederlage Japans und nach Kriegsende kam Vietnam nicht zur Ruhe. Bereits 1945 begann Frankreich in Südvietnam seine alte Kolonialverwaltung wieder einzurichten. 1949 bildete sich im Süden Vietnams in Saigon eine  loyal zu Frankreich stehende Regierung. Angeführt wurde sie vom früheren Kaiser Bao Dai, der allerdings zu Recht als Marionette Frankreichs galt.

In der Folge versuchte Frankreich, auch den Norden des Landes wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Im Norden des Landes hatte sich Ende 1945 ein kommunistisches Regime unter Ho Chi Minh etabliert.

1954 erlitt Frankreich, innen- und außenpolitisch geschwächt durch Wirtschaftskrise         und Algerienkrieg,          eine    kriegsentscheidende Niederlage in der zur Festung ausgebauten Stadt Dien Bien Phu im Norden Vietnams nahe Laos und China. General Giap, oberster Militärbefehlshaber der nordvietnamesischen Truppen hatte schweres Kriegsgerät auf Dschungelpfaden über hunderte von Kilometern nach Dien Bien Phu transportieren lassen und dort einen Ring um die französischen Truppen geschlossen. Die französischen Truppen, unterstützt durch zahlreiche deutsche Fremdenlegionäre, hatten dem nichts entgegenzusetzen. Mit der französischen Kapitulation war das Ende der französischen Kolonialzeit in Südostasien eingeleitet.  Gerne möchte ich Ihnen eine Anekdote aus meiner Botschafterzeit in Hanoi berichten. Und zwar über eine Begegnung mit eben diesem General Giap, der die Franzosen besiegt hatte. Er wohnte nur einen Steinwurf entfernt von der Deutschen Residenz. Ich hatte gesprächsweise Interesse an einem gelegentlichen Zusammentreffen mit meinem Nachbarn geäußert und erhielt nach mehreren Wochen ganz kurzfristig einen Besuchstermin. Offen gestanden, hatte ich dieses Anliegen zwischenzeitlich schon lange wieder vergessen. Umso beeindruckender war dann die persönliche Begegnung. General Giap empfing mich in der Bibliothek seiner Villa. Zu Ehren seines Gastes hatte er seine alte Generalsuniform angelegt, die allerdings über die Jahre viel zu groß für ihn geworden war. Zu meiner Überraschung erzählte er von mehreren Deutschlandaufenthalten, die er zusammen mit Ho Chi Minh in den Zwischenkriegsjahren durchgeführt hatte. Nach meiner Kenntnis ist davon in der Geschichtsschreibung bis heute nichts bekannt. Ho Chi Minh war im Alter von 21 Jahren nach Frankreich geflohen. Giap fügte hinzu: „und in Deutschland habe ich gesehen, wie die Faschisten die Kommunisten auf den Straßen erschlagen haben“. Ich muss wohl ziemlich verdutzt dreingeblickt haben, denn schmunzelnd meinte er dann: „aber dies ist ja heute nicht mehr so“. Zur Verabschiedung griff in er in den Bücherschrank hinter sich und überreichte mir ein kleines Bändchen mit seinen Schriften, das er mir dedizierte. „Grüßen Sie die Frau Bundeskanzlerin von mir“, sagte er zur Verabschiedung. 

Lassen Sie uns jetzt wieder auf das Terrain der Geschichtsschreibung zurückkehren. Das Ende der französischen Kolonialherrschaft bedeutete nicht das Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen auf vietnamesischem Boden.  

Bei der Indochinakonferenz 1954 stimmte Nordvietnam einem Rückzug hinter den 17. Breitengrad zu, für 1956 wurden freie Wahlen über die Zukunft Vietnams vereinbart. Den Ausgang der Geschichte kennen Sie. Jede der beiden Seiten, der Norden und der Süden, versuchte die Ergebnisse der Indochinakonferenz zum eigenen Vorteil umzudeuten, das militärische Engagement der USA zugunsten Südvietnams und die militärische Unterstützung des Nordens durch China nahmen immer massivere Ausmaße an. Vom Stellvertreterkrieg dieser beiden Mächte wird daher im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg häufig gesprochen. Washington betrachtete Vietnam als Vorposten Chinas und befürchtete einen Domino-Effekt in Südostasien, wenn das gesamte Land unter kommunistische Herrschaft fiele.

Als Herrmann von Richthofen 1966 seinen Dienst in Saigon, der Hauptstadt Südvietnams antrat, war der Weltöffentlichkeit die ganze Grausamkeit dieses Krieges bereits vor Augen geführt worden. Die Medien und insbes. das Fernsehen hatten Bilder vom Leid der Menschen in die Wohnzimmer Amerikas und Europas übermittelt. Peter Scholl-Latour, Korrespondent für das deutsche Fernsehen, schreibt in seinem auch heute noch lesenswerten Buch „Der Tod im Reisfeld“: „Mit der Verstärkung des US-Engagements in Indochina waren ganze Rudel amerikanischer Journalisten in Saigon eingetroffen. Sie hatten im höchsten Stockwerk des modernen Hotels „Caravelle“, das angeblich der katholischen Kirche gehörte, in einer unterkühlten, sterilen Bar ihr Stammquartier aufgeschlagen“. Wer heute Saigon, oder jetzt Ho Chi Minh Stadt, besucht, kann in dieser Bar immer noch einen Drink einnehmen. Saigon war kein schöner Posten für einen jungen, frisch vermählten Diplomaten. Im Jargon des Auswärtigen Amtes spricht man in diesem Zusammenhang von einem Härteposten. Und das war Saigon auch. Peter Scholl-Latour schreibt: „Die Stadt Saigon hatte sich seit der massiven amerikanischen Intervention in unerfreulicher Weise verändert. Die Straßen und Gassen wimmelten von grünen amerikanischen Felduniformen. Aber das Grün der Bäume verkümmerte und verdorrte unter einer infernalischen Benzinwolke. Daran waren nicht nur die knatternden Auspuffrohre endloser Militärkonvois schuld, sondern vor allem das unbeschreibliche Massenaufgebot von Motorrollern und Mopeds.“ In seinem Roman „Der stille Amerikaner“ beschreibt Graham Greene eindrucksvoll, wie sich in Saigon der Übergang von der französischen Kolonialmacht zu amerikanischen vollzog.

In einem schönen Video-Clip des „Zeitzeugen-Portal“, das Beiträge zur deutschen Geschichte sammelt, gibt Hermann von Richthofen sehr persönliche Einblicke in seine Zeit in Saigon, dem heutigen Ho Chi Minh Stadt. 

Hermann von Richthofen erwähnt in dem Video-Clip, dass er sich eigentlich auf einen Posten in Lateinamerika vorbereitet hatte, als er den Versetzungserlass für Saigon erhielt. Gewissermaßen in Vorbereitung auf diesen Posten führte die Hochzeitsreise das junge Ehepaar nach Singapur, bevor sie dann in Saigon eintrafen. Asien war Hermann von Richthofen bis dahin vollkommen unbekannt, es war wirklich die Fremde, in der er und seine Frau eintrafen. Dementsprechend war auch das Einleben nicht ganz einfach. Man erlebte das Kriegsgeschehen hautnah mit, die Kampfhandlungen waren mittlerweile bis in den Süden vorgedrungen, nächtliche Schießereien waren vor dem Hotel, in dem das Ehepaar untergekommen war, keine Seltenheit. Aber das Ehepaar Richthofen machte das Beste aus dieser schwierigen Situation. Ein ehemaliger Botschaftskollege, Ulrich Brinkhoff, schreibt in seinen Erinnerungen mit dem Titel „Albträume am Saigon-Fluss“: „Die Richthofens hatten echtes Talent für die Ausrichtung geselliger Feiern, verhinderten gekonnt Grüppchenbildung nach Fachabteilungen und mischen die Gäste immer wieder auf.“ Brinkhoff erinnert daran, dass am 01. Februar 1967 ein Sohn der von Richthofens geboren wurde.

Man hatte Hermann von Richthofen von Seiten des Auswärtigen Amtes die Weisung mitgegeben, sich insbesondere im Bereich der humanitären Hilfe zu engagieren. Eine nicht ganz unwichtige Mission. Und eine nicht ganz ungefährliche Mission. Um den Ernst der Lage zu illustrieren, will ich kurz aus einem Brief des deutschen Botschafters vom Frühjahr 1966 an die deutschen Landsleute zitieren. Der Brief findet sich in dem umfangreichen Vietnam-Archiv des Auswärtigen Amtes. Der Botschafter schreibt: „Auf eine dringende Bitte der vietnamesischen Regierung möchte ich Ihnen empfehlen, zurzeit keine unnötigen Risiken für Ihre Sicherheit auf sich zu nehmen und Reisen auf dem Landweg in unsichere Gegenden zu unterlassen.“ 

In den Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes kann man auch nachlesen, wie sehr die Bundesregierung damals angesichts von US-Forderungen nach einem stärkeren deutschen Engagement in Vietnam mit sich gerungen hat. Die Bundesregierung und Bundeskanzler Erhard waren massiven US-Forderungen nach einer militärischen Beteiligung am Vietnam-Krieg ausgesetzt. Die USA waren verärgert über die aus ihrer Sicht zögerliche Haltung Deutschlands. In einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung heißt es hierzu: „…der amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara wies auf einer NATO-Tagung gegenüber seinem deutschen Amtskollegen Kai-Uwe von Hassel auf die besondere Verbundenheit der Deutschen mit Süd-Vietnam hin. Die Äußerung „The defense of Berlin starts at the Mekong“ sollte eine Analogie zwischen der Verteidigung der Freiheit in Europa mit der in Südostasien herstellen. Mit der Unteilbarkeit der Verteidigung der Freiheit wie auch der Analogie der Teilungssituation beider Länder übten die USA Druck auf den deutschen Bündnispartner aus, sich stärker am amerikanischen Engagement in Vietnam zu beteiligen. 

Die Verteidigung der freien Welt zog die US-Regierung dabei häufig als Argument heran, um ihre Bündnispartner an deren Solidarität und Verantwortung zu erinnern…“ so weit die Konrad Adenauer Stiftung.

Ein deutscher Militäreinsatz in Vietnam wurde jedoch von der Mehrheit der Deutschen abgelehnt. Dagegen sollte nach dem Willen der Bundesregierung und zahlreicher Bundestagsabgeordneter die humanitäre Hilfe weiter ausgebaut werden. Bei einer

Ressortbesprechung Ende 1965 wurden erste Optionen für Maßnahmen der humanitären Hilfe entwickelt. Eine dieser Optionen war die Errichtung einer Prothesenwerkstatt, eine andere der Aufbau eines Krankenhauses und eine dritte Option war die Entsendung eines Lazarettschiffes. In dem Ergebnisvermerk zu dieser Besprechung, der sich im Archiv des Auswärtigen Amtes findet, heißt es: „Ein Lazarettschiff böte deutschem Personal mehr Sicherheit als ein stationäres Lazarett und würde in der Öffentlichkeit mehr Aufsehen erregen. Allerdings dürfte es auch ein Vielfaches kosten, wahrscheinlich 50 bis 70 Mio DM…“ Dann folgt ein Zusatz, der auch aus der Gegenwart stammen könnte: „Wegen der relativ hohen Kosten machte der Vertreter des Bundesfinanzministerium…Bedenken geltend“.

Am Ende setzte sich dann doch der Projektvorschlag für ein Lazarettschiff durch, man hoffte in Bonn, hiermit die US-Forderungen nach militärischem Personal zumindest für den Moment auffangen zu können. In einer Aufzeichnung zu Gesprächen Erhard/Johnson vom Dezember 1965 heißt es: „Der Bundeskanzler hat klargestellt, dass eine militärische Unterstützung in keiner Form möglich sei…“. In dem nachfolgenden Briefwechsel der beiden Regierungschefs erläutert Erhard sodann die Bereitschaft der Bundesregierung zu humanitärer Hilfe. Er fügt hinzu: „Wir unterstützen alle Bemühungen um eine friedliche Beilegung dieses Konfliktes, der schon so große Opfer gefordert hat“. Auch diese beiden Dokumente finden sich im Archiv das Auswärtigen Amtes. Aus den Akten dort wird im Übrigen deutlich, dass auch Erhards Nachfolger als Bundeskanzler, Kurt-Georg Kiesinger und sein Außenminister Willy Brandt trotz aller Nuancen in ihrer Politik grundsätzlich bei dieser Linie blieben.

Hermann von Richthofen war also in einem Aufgabenbereich eingesetzt, der nicht nur für Vietnam, sondern auch für das deutschamerikanische Verhältnis von erheblicher Bedeutung war.

Folgerichtig war auch seine Zusammenarbeit mit der US-Botschaft besonders eng, bis in die höchsten Etagen. Selbst mit Botschafter Cabot Lodge und mit dem militärischen Oberkommandierenden General William Westmoreland hatte der junge Diplomat Kontakt. 

Hermann von Richthofen sollte sich um die Sicherheit der Teams des von der Bundesregierung beschlossenen Lazarettschiffs, der Helgoland, kümmern. 

Das Deutsche Rote Kreuz schildert den Einsatz der Helgoland auf seiner Website.

Danach lässt die Bundesregierung das frühere Seebäderschiff, das von einer Reederei gechartert worden war, 1966 zum Hospitalschiff umrüsten und entsendete es zunächst nach Saigon. Das Deutsche Rote Kreuz übernahm die Trägerschaft und stellte auch die Krankenschwestern. Das Schiff verfügte über 150 Krankenbetten, 50 weitere boten eine mitgeführte Baracke, die als landgestützte Ambulanz eingesetzt werden konnte. Am 14. September 1966, kurz nach dem Eintreffen des Ehepaars von Richthofen, lief die Helgolandin den Saigon-Flussein, eskortiert von US-Kampfhubschraubern und Schnellbooten. In prominenter Lage machte es am Quai de Belgique vor dem Hotel Majestic fest. Ab 1967 ankerte die Helgoland vor Da Nang.

Das erste Team, dem Hermann von Richthofen zur Seite stand, bestand aus sieben Ärzten, zwanzig Schwestern und acht Pflegern. Sie hatten sich für sechs Monate verpflichtet, manche verlängerten auf ein Jahr. Fast alle waren jung; voller Tatendrang hatten sie sich sehr bewusst für diesen schwierigen Einsatz entschieden. Wann immer nächtlicher Raketenbeschuss drohte – und das war oft über Wochen hinweg der Fall –, lief die Helgoland aus und wartete auf Außenreede ab, bis die Lage sich beruhigte. Hermann von Richthofen kamen bei der Betreuung der Helgoland seine engen Kontakte zur US-Botschaft zugute. Die amerikanischen Kollegen informierten ihn über die aktuelle Gefahrenlage, hin und wieder gaben amerikanische Hubschrauber der Helgoland Geleit.

Das Grundprinzip des Einsatzes der Helgoland war, dass allen Bedürftigen unterschiedslos geholfen wird, ohne dass Fragen nach Freund oder Feind, arm oder reich gestellt wurden – ein Segen für das von Krieg und Korruption heimgesuchte Land. Hierauf legten auch das Auswärtige Amt und Hermann von Richthofen großen Wert. Alle Dienste waren kostenlos, ausschließlich Zivilisten wurden behandelt.

Häufig sahen Hermann von Richthofen und die Helfer sich mit Verletzungen konfrontiert, die sonst nur Kriegschirurgen zu sehen bekommen. Da ist der Junge, der mit einer Handgranate gespielt hat. Dort das Mädchen, dem ein Querschläger die Leber zerrissen hat, und das wenige Tage nach der Operation schon wieder spielt. Oder die Bewohner eines Dorfes, über dem Napalmbomben niedergegangen sind, und deren Haut, zehn Stunden danach noch rauchte „wie eine Zigarette im Aschenbecher“, so erinnerte sich einer der behandelnden Ärzte. Und da ist die von Splittern durchsiebte hochschwangere Frau, die zehn Tage lang an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen blieb und dort auch ihr Kind zur Welt brachte. Während sie zwei Tage später stirbt, wird der Säugling als „Mr. Helgoland“ zum Liebling des Personals.

Über fünf Jahre sollte der Einsatz der Helgoland dauern. In dieser Zeit wurden über 200.000 Patienten ambulant und über 12.000 Patienten stationär behandelt. Leider wurde auch die Helgoland zum Politikum. Obwohl der humanitäre Charakter der Mission außer Frage stand, wurde sie von manchen als Schachzug im Kalten Krieg wahrgenommen. In einem Youtube-Clip sowie in zahlreichen Fernsehreportagen wird der Einsatz der Helgoland ausführlich geschildert. Stellvertretend für ihre Kolleginnen und Kollegen berichtet die Krankenschwester Constanze Hundt Jahrzehnte später im SWR Fernsehen über ihre Erfahrungen. Aus all diesen Quellen habe ich frei zitiert.

Meine Damen und Herren, als ehemaliger deutscher Botschafter in Vietnam und in meiner jetzigen Funktion als Präsident der Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft traf und treffe ich immer wieder mit Vietnamesinnen und Vietnamesen zusammen, die selbst auf der Helgoland behandelt worden sind, oder die Familienangehörige und Freunde haben, die auf der Helgoland Hilfe fanden. Die humanitäre Arbeit der Helgoland hat sich tief in die Erinnerungskultur vieler Vietnamesinnen und Vietnamesen eingeprägt. Hermann von

Richthofen gebührt das Verdienst, durch seinen unermüdlichen Einsatz vor Ort, häufig unter Gefahr für Leib und Leben, die Arbeit der Helferinnen und Helfer der Helgoland ermöglicht zu haben. 

Humanitäre Hilfe bedeutete damals nicht nur enge Zusammenarbeit mit dem Hospitalschiff Helgoland, sondern auch mit den Maltesern, dem Internationalen Roten Kreuz, dem Vietnamesischen Roten Kreuz, den Johannitern und vielen anderen mehr. Der ehemalige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Dr. Rudolf Seiters, erinnerte sich an die gute Zusammenarbeit zwischen den Hilfsorganisationen. „Die Hilfe der Malteser und des DRK war ein Meilenstein in der humanitären Hilfe. Sie alle waren humanitäre Botschafter unseres Landes!“ 

Der christliche  Hilfsdienst der Malteser war ebenfalls im Auftrag der Bundesregierung in dem vom Krieg schwer gezeichneten Land im Einsatz. Auf der Website der Malteser wird berichtet, dass die ersten Einsatzkräfte – Ärzte, Schwestern, Logistiker – im Jahre 1966, also im Jahre des Dienstantritts von Hermann von Richthofen, nach Vietnam in den Krieg aufbrachen. Es war der erste humanitäre Großeinsatz der Malteser im Ausland. Auch für die Malteser war Hermann von Richthofen auf Seiten der Botschaft der erste Ansprechpartner. Im Archiv des Auswärtigen Amtes findet sich ein Bericht des Leiters des Malteser-Hilfsdienstes, Graf Landsberg-Velen, in dem die Ergebnisse einer Erkundungsmission von Mitte 1966 zusammengefasst werden. Abschließend heißt es dort: „Es ist zu einem großen Teil der hervorragenden Beratung, Unterstützung und Mitwirkung der Deutschen Botschaft Saigon und des Legationsrats Freiherr von Richthofen zu verdanken, dass in den wenigen Tagen meines Aufenthaltes in Südvietnam die konkreten Grundlagen für den im Auftrag der Bundesregierung erfolgenden Malteser-Einsatzes gelegt werden konnten und es ist meine Dankespflicht, dies hier in aller Form zum Ausdruck zu bringen“.

Mehr als 300 Malteser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versorgten  zwischen 1966 und 1975 in Krankenhäusern und Gesundheitsstationen Verletzte und Kranke. Das Personal bestand aus Einheimischen und Deutschen. Tausenden retteten sie das Leben. Der Einsatz war gefährlich. Groß waren auch die physischen und psychischen Herausforderungen. In Da Nang, Hoi An und An Hua errichteten sie Hospitäler. Hermann von Richthofen unterstützte die Malteser vor Ort in ihrer Arbeit. In einem Schriftbericht an das Auswärtige Amt wird er trotz des Ernstes der Lage von einem gewissen Galgenhumor erfasst. Er schreibt: „Die Entenscharen, die in den abgeernteten Stoppelfeldern entlang der Straße nach Fröschen und Würmern gründelten, machten einen ebenso gelassenen Eindruck wie das Volk…“. Insgesamt erscheinen dem jungen Diplomaten die Schwierigkeiten, mit denen der Malteser Hilfsdienst konfrontiert ist, doch ganz erheblich. Hermann von Richthofen fasst es wie folgt zusammen: „…die Unterbringung ist zurzeit fast unzumutbar. Das Hospitalschiff [sc. Helgoland], wo morgens zum Frühstück frische Mohnbrötchen serviert werden, nimmt sich demgegenüber als

Ferienreise aus“.

Eng arbeitete Hermann von Richthofen auch mit dem Johanniterorden zusammen. Hermann von Richthofen hatte im Mekong-Delta unermessliches menschliches Leid miterlebt, das der Krieg für die Zivilbevölkerung mit sich brachte. Am schutzlosesten waren die Kinder den Kampfhandlungen ausgesetzt. Tausende unter ihnen waren zu Waisen geworden. Hierüber berichtete Hermann von Richthofen auch nach Deutschland. Mit der Übergabe eines von den Johannitern gespendeten Waisenhauses hoffte er, die Not der Waisenkinder zu lindern. Christa von Richthofen hatte beim Aufbau des Waisenhauses tatkräftig mitgeholfen. Eine Hoffnung, die leider trügerisch war. Mit dem Fortgang des Krieges gab es auch für die Waisenkinder keine Rettung mehr.

Viele Jahre später wurde Hermann von Richthofen als Rechtsritter in den Johanniterorden aufgenommen.

Die Leiden und die Wunden des Krieges, die Hermann von Richthofen und seine Frau in Vietnam miterlebt haben, sind auch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, immer noch sichtbar.

Während meiner Zeit als Botschafter habe ich wiederholt Heime besucht, die u.a. das vietnamesische Rote Kreuz für Menschen unterhält, die an den Spätfolgen des Einsatzes von Agent Orange erkrankt sind. Es ist erschütternd, dass auch heute noch unschuldige Menschen zu Opfern eines sinnlosen Krieges werden. Die Kirchen und deutsche Nichtregierungsorganisationen leisten in den Heimen wertvolle Hilfe. Auch die Umwelt leidet bis zum heutigen Tag unter den Spätfolgen des Krieges. Ganze Landstriche sind im Grenzgebiet zwischen Vietnam und den Nachbarstaaten Laos und Kambodscha immer noch vermint,         sie       werden         noch viele   Jahrzehnte landwirtschaftlich nicht nutzbar sein. Peter Scholl-Latour sagte hierzu: „…die lieblichen Dörfer und Sandbuchten Vietnams verwandelten sich in gigantische Fabriken des Krieges, in eintönige Barackensiedlungen und Asphaltwüsten“.

Auch Nahrungsmittel- und Sachspenden gehörten zu den humanitären Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung. In einem Bericht der Botschaft Saigon vom Juni 1966 berichtet der Botschafter, wie er zusammen mit Hermann von Richthofen eine Reisspende von 870 Tonnen an

Binnenflüchtlinge in Zentralvietnam verteilte. Der Botschafter schreibt: „Aus der nieseligen und tränengasschwangeren Atmosphäre der Etappenstadt Saigon brachte uns eine Militärmaschine in das hochsommerliche Da Nang…Soziologisch setzen sich die Flüchtlinge vorwiegend aus Müttern mit Kindern und aus alten Leuten zusammen. Eine mittlere männliche Generation ist so gut wie nicht vorhanden. Mit den Geld- und Sachspenden der eigenen Regierung können sie nicht einmal das Existenzminimum erreichen… Von der Bundesrepublik Deutschland wird neben Lebensmittelspenden in erster Linie die Entsendung von Flüchtlingshelfern erbeten…, die die Flüchtlinge u.a. in Heimarbeit unterweisen können….Die Hauptschwierigkeit bei der Heimarbeit       liegt    in         der     Auswahl eines

geeigneten Produktes…Historisch drängt sich hier das Beispiel der Brüsseler Spitzen in den protestantischen Flüchtlingslagern Hollands auf“. Einer der Leser im Auswärtigen Amt hat auf dem Rand dieses Berichtes neben dem Hinweis des Botschafters auf die Brüsseler Spitzen ein großes Fragezeichen vermerkt.

Die humanitäre Tätigkeit der Botschaft Saigon war häufig nicht von der konsularischen Betreuung der deutschen Landsleute zu trennen. Immer wieder mussten Hermann von Richthofen und die übrigen deutschen Diplomaten tätig werden, wenn deutsche Helfer von den

Konfliktparteien entführt und sogar ums Leben gebracht worden waren. 

Hermann von Richthofen berichtet davon, wie fünf Malteser entführt worden waren und wie er alle Hebel in Bewegung setzte, um sie wieder frei zu bekommen. Drei von ihnen überlebten die Gefangennahme jedoch nicht, zwei kamen erst nach vier Jahren Einzelhaft in einem berüchtigten Gefängnis in der Hauptstadt des Nordens, das den sarkastischen Beinamen „Hanoi Hilton“ erhielt, wieder frei. Dieses ehemalige Gefängnis kann heute als Museum besichtigt werden. Tempora mutantur.

Ein anderer Fall betraf die Entführung von vier deutschen Ärzten, die an der Universität Hué eingesetzt waren; die Botschaft konnte ihnen nicht mehr helfen, sie kamen ums Leben. Peter Scholl-Latour berichtet über einen Besuch in Hué und den schrecklichen Entführungsfall. Er Schreibt: „In Hué, so hieß es damals, schlug das nationale Herz Vietnams…Ein junger deutscher Arzt, der an dem Universitätshospital von Hué praktizierte und unterrichtete, begleitete uns in seinem Peugeot zu den in der Nähe gelegenen alten Königsgräbern… Der Arzt wusste damals nicht, was ihm bevorstand. Bei der großen Neujahrsoffensive der Nordvietnamesen im Januar 1968, als die Soldaten Hanois über der kaiserlichen Zitadelle den gelben Stern ihrer Revolution hissten und vierzig Tage lang dem Ansturm der amerikanischen Übermacht trotzten, ist er mit einer Anzahl seiner Kollegen ermordet worden. Man hatte zunächst behauptet, die Nordvietnamesen seien die Täter gewesen, was angesichts der großen Disziplin der regulären Truppen General Giaps wenig plausibel klang. In Wirklichkeit, so wurde später heimlich berichtet, seien die Ärzte von Hué von einer Gruppe ihrer ehemaligen Studenten gemeuchelt worden, die bei den medizinischen Examen schlecht abgeschnitten hatten oder ihren revolutionären Übereifer beweisen wollten.“ So weit Peter Scholl-Latour. 

Von Richthofens Botschaftskollege Ulrich Brinckhoff merkt hierzu an: „Wir wurden das Gefühl nicht los, dass Scholl-Latour besser über das, was sich ereignete, unterrichtet war, als manche Person aus diplomatischen oder Regierungskreisen“.

Ins Mark getroffen wurde die Belegschaft der Botschaft durch das Schicksal ihres Kollegen Rüdt von Collenberg, der als Legationssekretär in Saigon eingesetzt war. Die genaueren Umstände seines Todes blieben ungeklärt, doch ist davon auszugehen, dass auch er Kampfhandlungen der Konfliktparteien zum Opfer fiel.

Lassen Sie mich zusammenfassen. Der Vietnam-Krieg steht beispielhaft für den gescheiterten Versuch großer Mächte, in Südostasien mit militärischen Mitteln politische Ziele durchzusetzen. Frankreich, Japan, die USA und später China haben in Vietnam militärische Niederlagen erlitten. Dem Aufwuchs an militärischem Engagement stand in keinem Fall ein kommensurabler politischer Erfolg gegenüber. Im Gegenteil. Hat die Welt hieraus gelernt? Ich weiß es nicht!

Der Wissenschaftler Wilfried Lulei, der lange den zwischenzeitlich geschlossenen Vietnamistik-Lehrstuhl an der Humboldt-Universität innehatte, kommt in seiner „Geschichte Vietnams“ zu nachfolgender Schlussfolgerung: „Der Einsatz einer halben Million amerikanischer Soldaten und großer geschlossener Kampfverbände der nordvietnamesischen Volksarmee im Süden Vietnams und der amerikanische Bombenkrieg gegen den Norden veränderte Umfang und Charakter des Krieges entscheidend. Bis 1964 waren die Auseinandersetzungen trotz allem Engagement ausländischer Mächte im Wesentlichen ein Kampf zwischen den beiden politischen Hauptrichtungen…und wurde überwiegend mit vietnamesischen Soldaten geführt. Ab 1964 wurde er für die einen zum nationalen Widerstandskrieg gegen ausländische Aggressoren, für die anderen zum Krieg gegen den Kommunismus“.

Lulei weiter: „Südvietnam erlangte in den1960er Jahren im Rahmen der westlichen Strategie zur Zurückdrängung des Kommunismus in der Welt einen besonderen Stellenwert. Nach Ansicht vieler US-Strategen würde ein Verlust Südvietnams an den Kommunismus katastrophale Folgen für andere Länder in Südostasien haben und damit das Kräfteverhältnis in der ganzen Welt zuungunsten des Westens beeinflussen.“

In der Geschichtsschreibung herrscht heute weitgehendes Einvernehmen zu dieser von Lulei und vielen anderen Historikern vorgenommenen Analyse. Die Staatenwelt war in den späten 60er Jahren, als Hermann von Richthofen in Saigon im Einsatz war, in der Vietnamfrage gespalten. Präsident Johnson beharrte zum damaligen Zeitpunkt  noch darauf, den Krieg mit aller Härte fortzusetzen. Ganz anders Frankreich. Staatschef De Gaulle sprach sich für einen bedingungslosen Abzug der USA aus. Auch die Blockfreien Indien, Jugoslawien und Ägypten bezogen gegen das US-Engagement

Stellung. Der Politikwissenschaftler und Publizist Lothar Ruehl wählte für eines seiner Bücher den Titel: „Vietnam, Brandherd eines Weltkonflikts“.

Allen unter Ihnen, die sich näher mit dem Vietnam-Krieg beschäftigen wollen, empfehle ich die Memoiren des damaligen US Verteidigungsministers und späteren Weltbank-Chefs Robert McNamara. Innerhalb der US-Administration galt er als Falke, der zusammen mit General Westmoreland einen Aufwuchs der US Truppen bis auf 500.000 Soldaten, auch gegen erheblichen innenpolitischen Widerstand, durchsetzte. In seinen Memoiren mit dem Titel „Vietnam – Trauma einer Nation“, die in Deutschland vom Spiegel-Verlag herausgegeben worden sind, berichtet McNamara, dass das Verhältnis zwischen Botschafter und Oberkommandierendem zerrüttet war. Wenn General Westmoreland in Washington die Anforderung neuer Truppen rechtfertigen wollte, zeichnete er die Erfolge der gegnerischen Seite in dunkelsten Farben. Wenn Westmoreland seine Präsenz rechtfertigen wollte, überhöhte er eigene Erfolge. McNamara fasst das US-Engagement in Vietnam im Rückblick mit den Worten zusammen: „wir haben uns schrecklich geirrt“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Peter Scholl-Latour schreibt: „General Westmoreland, der US Oberbefehlshaber in Vietnam, hat das unfehlbare Rezept zur Bekämpfung der Partisanen gefunden, so hieß es 1966 in den Stäben von Saigon, und die westliche Presse stimmte in diesen Chor ein. Die neue Formel des Sieges hieß: „Search and destroy – Aufspüren und Vernichten“. Von der bisherigen Strategie, die noch unlängst unter der Bezeichnung: „Clear and hold – Säubern und Besetzen“ empfohlen worden war, wollte niemand mehr etwas wissen. Der Sieg schien in Reichweite…“. Eine fatale Fehleinschätzung, wie bald klar wurde. 

Nicht nur rückte ein militärischer Sieg der USA in immer weitere Ferne, die Sicherheitslage verschlechterte sich einem solchen Maße, dass die Bundesregierung bereits Mitte der 60er Jahre Maßnahmen für die Evakuierung deutscher Experten ergriff. In einer Weisung an die  Botschaft Saigon heißt es: „Um die Gefährdung deutscher Experten in Entwicklungsprojekten möglichst auszuschließen, hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemäß Kabinettsbeschluss entschieden: Frauen und Kinder von Experten sollen – soweit möglich – umgehend außer Landes in Sicherheit gebracht werden. Die Experten selbst können zu ihrer eigenen Sicherheit ausreisen, falls sie das wollen“.

Ergänzend telegrafiert die Botschaft: „Die Deutsche Botschaft hat ähnlich andere diplomatische Vertretungen den in der südvietnamesischen Hauptstadt lebenden Deutschen empfohlen, das unmittelbare Gefahrengebiet zu verlassen.“ 

Der bekannte ARD-Auslands-korrespondent Heinz Werner Hübner fasste die Lage in einem seiner Jahresrückblicke, der stellvertretend für die späten 60er Jahre steht, folgendermaßen zusammen: „Verbrannte Erde von der Grenze Chinas bis zur Mündung des Mekong. Mit steigendem Einsatz wächst die Ratlosigkeit aller Seiten. Nur eines ist sicher, dass für keine Seite der Sieg sicher ist. Bomben und Granaten verwandeln Vietnam in einen Narbenteppich. Die Last trägt das Volk, das nicht nur Leib und Leben und Hab und Gut, sondern auch die Würde des Menschen verliert. Der Tod ist in Vietnam so alltäglich wie andernorts ein Straßenschild. Ein Volk in Waffen ist die Antwort auf die US-Bomben. Aber Bomben zwingen dieses Volk nicht in die Knie“.

Und heute? Heute arbeiten die US-Administration und die Regierung in Hanoi pragmatisch zusammen. Washington unterstützt Vietnam in dessen Territorialkonflikt mit China im Südchinesischen Meer. Heute blickt die Jugend Vietnams nicht nur nach Japan und Korea, sondern auch nach Kalifornien und Silicon Valley. Dirk Sager, ebenfalls Korrespondent für das deutsche Fernsehen, schreibt in seinem Buch „Berlin – Saigon: Eine Reise in die andere Hälfte der Welt“: „Längst sprechen viele der jungen Leute in Vietnam Englisch… Bestimmender als das französische Erbe erscheint in der Gegenwart der amerikanische Einfluss, selbst auf den Speisekarten vieler Restaurants, die in den letzten Jahren entstanden. Im Krieg vertrieben, aber im Frieden eine bestimmende Macht“. Wer hätte sich dies vor 60 Jahren vorstellen können?

Vietnam steht auch für die Prinzipienfestigkeit der jungen Bundesrepublik Deutschland. Nur zwei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges bestand innerhalb der Bundesregierung weitgehendes Einvernehmen, dass ein militärisches Engagement an der Seite des amerikanischen Verbündeten nicht in Frage kam. Und dies trotz massiven Drucks aus Washington. Präsident Johnson war bekannt und gefürchtet für seine direkte, unverblümte Sprache. Auch Bundeskanzler Erhard musste dies schmerzlich erfahren. In Bonn entschied man sich gleichwohl für humanitäre Maßnahmen, um der US Seite guten Willen unter Beweis zu stellen. 

Die von der Bundesregierung in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Vietnam-Krieg verfolgte Politik erfüllt manche Kriterien dessen, was heute in der Politologie als „soft power“ Politik definiert wird. Der Begriff „soft power“ geht auf die US-amerikanische Politologie, auf den Wissenschaftler Joseph S. Nye zurück. Soft Power wird in Abgrenzung und als Gegensatz zur Hard Power verstanden. Hard Power ist eine Politik insbes. der militärischen Stärke. Soft Power ist eine Politik mit nicht-militärischen Mitteln.

Manche haben damals diesen deutschen Beitrag gering geachtet. In der Rückschau mag sich hierzu jeder sein eigenes Bild machen.

Es verdient erwähnt zu werden, dass die DDR ebenfalls erhebliche humanitäre Hilfe für die leidende Bevölkerung Vietnams leistete. Natürlich stand die DDR auf Seiten des Nordens, den sie auch militärisch unterstützte. Sie bot jedoch auch Waisenkindern in Sachsen ein Dach und eine Ausbildung. Zehntausende Studenten kamen aus Vietnam, um in der DDR zu studieren. Zu einer gewissen Bekanntheit haben es die „Moritzburger“ gebracht, 350 Kinder, die in die DDR eingeladen wurden, um dort eine Schulausbildung zu erhalten. Dirk Sager berichtet hierüber in seinem 2007 herausgegeben Buch, aus dem ich bereits zitiert habe: „Der gegenwärtige deutsche Botschafter in Hanoi ebenso wie der Leiter des Goethe-Instituts klagen, dass es ihnen an Mitteln fehle, um an diese Tradition der Unterstützung [sc. der DDR] anzuknüpfen“. Wie nachhaltig die Hilfe der DDR im humanitären, universitären und entwicklungspolitischen Bereich war, kann jeder feststellen, der Vietnam, insbes. den Norden besucht. Die Kriegsgeneration ist heute noch dankbar für die empfangene Hilfe. Ein gutes Beispiel für erfolgreiche humanitäre Hilfe der DDR ist das Vietnamesisch-Deutsche Krankenhaus, das Viet-Duc Hospital, in Hanoi, in das die DDR viel Geld investierte.

Das Viet Duc Hospital ist auch ein schönes Beispiel für humanitäre Hilfe der Zivilgesellschaft. Auch hierzu noch eine kleine Anekdote aus meiner Zeit als Botschafter. Der damalige Außenminister Steinmeier stattete Vietnam einen offiziellen Besuch ab. Er wurde, wie üblich, von einer größeren Delegation hochrangiger deutscher Wirtschaftsvertreter begleitet. Ich hatte ihnen abends nach Ende des offiziellen Programms an der Hotelbar vom Deutschen Krankenhaus, dessen wichtiger Arbeit und dessen großem Mittelbedarf berichtet. Spontan wurden von den Wirtschaftsbossen Zusagen im größeren fünfstelligen Bereich gemacht, den symbolischen Scheck konnten wir am nächsten Tag vor Ort übergeben.

Auch Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts schien die Welt aus den Fugen geraten. Der Vietnam-Krieg eskalierte, 1968 marschierten die Sowjetunion und die Warschauer Pakt Staaten in der Tschechoslowakei ein und bereiteten dem Prager Frühling ein Ende. Heute ist die internationale Friedensordnung erneut durch die russische Invasion in der Ukraine bedroht. Was werden unsere Kinder und Nachkommen über die 20er Jahre dieses Jahrhunderts sagen und schreiben? Wir können es heute noch nicht wissen!

Die Familie von Richthofen erreichte 1968 das Ende ihrer Standzeit in Saigon. Nach über zwei Jahren in einem Kriegsgebiet sollte sie einen neuen Posten in Indonesien antreten. Wie Hermann von Richthofen selbst es formulierte, um der Familie „Entlastung“ für die Belastungen in Südvietnam zu verschaffen. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen: dies war wohl verdient. Hermann von Richthofen hat sich in Südvietnam große Verdienste für die leidende Bevölkerung und für die deutsche Regierung erworben! Er hat in Saigon bereits in jungen Jahren gezeigt, dass er ein Mann des Handelns ist, Zuschauen von außen war seine Sache nicht. Und er bewies auch, dass er das Herz auf dem richtigen Fleck hat. 

Hermann von Richthofen hat seinen festen Platz in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Alle, die sich mit der Außenpolitik unseres Landes befassen, werden sich an einen Diplomaten erinnern, der die internationalen Interessen Deutschlands mit analytischer Schärfe und großem Erfolg vertreten hat. 

Bildquellen: DRK, MHD, privat

Ihnen, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Und einen ganz herzlichen Dank an alle, die mich bei der Vorbereitung meines Vortrags unterstützt haben: an Frau Christine von Heinz, die mich bei sich zu Hause in Schloss Tegel zu Personen und Zusammenhängen gecoacht hat, an Frau Dr. Stefanie Rau Gerdts, die erste Kontakte herstellte, Frau Dr. Annette Welling, die meine Teilnahme kuratiert hat und natürlich an die Freunde des Ethnologischen Museums und ihren Vorsitzenden Herrn Manfred Rettig sowie die Deutsch-Britische Gesellschaft.