Rolf Schulze – Botschafter in Viet Nam von 2007-2011 und seit 2021 Vorsitzender Deutsch-Vietnamesische Gesellschaft e.V.
VNA: Wie beurteilen Sie die Bedeutung des Staatsbesuchs des Bundespräsidenten in Vietnam, der etwas mehr als ein Jahr nach dem offiziellen Besuch von Ministerpräsident Olaf Scholz in Vietnam stattfindet?
Rolf Schulze: Der bevorstehende Besuch des deutschen Staatsoberhauptes in Vietnam ist ein Beweis für die engen und freundschaftlichen bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Als Botschafter hatte ich die Ehre, den deutschen Präsidenten in seiner früheren Funktion als Außenminister bei einem Besuch in Vietnam zu begleiten. Ich konnte sein großes Interesse an der dynamischen Entwicklung Vietnams beobachten. Es ist schon außergewöhnlich, dass der Bundespräsident nur ein Jahr nach dem sehr erfolgreichen Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz nach Vietnam reist.
Es gibt viele gute Gründe für diese Beratungen auf höchstem Niveau. Deutschland betrachtet Vietnam als einen seiner wichtigsten Partner in Asien. Beide Länder haben ein gemeinsames Interesse an einer regelbasierteninternationalen Ordnung in einer multipolaren Welt, die von den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen bestimmt wird. Für beide Länder sind die Achtung der territorialen Integrität und die friedliche Beilegung von Konflikten von großer Bedeutung.
VNA: Da Sie sich seit vielen Jahren mit der deutschen Außenpolitik gegenüber Vietnam auskennen, was sind Ihrer Meinung nach die herausragenden Errungenschaften in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern in letzter Zeit?
Rolf Schulze: Die Liste herausragender bilateraler Initiativen ist beeindruckend. Ich möchte nur einige nennen.
Der Höhepunkt in den bilateralen Beziehungen war und ist natürlich die Unterzeichnung der „Strategischen Partnerschaft“ im Jahr 2011. Sie dient als Blaupause für die gesamte Zusammenarbeit unserer beiden Länder.
Zu einem wahren Leuchtturmprojekt entwickelte sich seit ihrer Gründung im Jahr 2008 die Vietnamesisch-Deutschen Universität (VGU), die dem akademischen Austausch zwischen beiden Nationen völlig neue Horizonte eröffnete.
Besonders stolz sind wir auch auf das „Deutsche Haus“ in Ho-Chi-Minh-Stadt. Das Gebäude beherbergt das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland, es ist eine erstklassige Adresse für deutsche Unternehmen und deutsche Organisationen. Moderne Technologie gepaart mit einem hohenMaß an Nachhaltigkeit sorgt für innovative Gewerbebüroflächen von außergewöhnlicher Qualität. Der Bundespräsident wird das Deutsche Haus besuchen.
Ein wichtiger Baustein unserer bilateralen Beziehungen ist die Zusammenarbeit bei der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens und der Agenda 2030, die nachhaltige Entwicklungsziele definiert. Deutschland unterstützt die „Green Growth Strategy“ der vietnamesischen Regierung und leistet einen Beitrag zur sogenannten „Just Energy Transition Partnership“, die darauf abzielt, Finanzmittel freizusetzen, um Vietnam bei einer gerechten und nachhaltigen Energiewende zu unterstützen.
Die Internationale Deutsche Schule Ho-Chi-Minh-Stadt bietet einen durchgehenden Bildungsweg vom Kindergarten bis zum Gymnasium und steht Kindern aller Nationalitäten offen. Mit dem International Baccalaureate Diploma ist ein direkter Übergang an Universitäten in Deutschland, der Schweiz und Österreich sowie vielen anderen Ländern der Welt möglich.
Nicht zuletzt sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern eine wahre Erfolgsgeschichte. Innerhalb der Europäischen Union ist Deutschland mit Abstand der wichtigste Handelspartner Vietnams. Im Jahr 2022 belief sich der bilaterale Handel auf fast 20 Milliarden Dollar. Vietnam ist unter den ASEAN-Staaten Deutschlands größter Handelspartner. Nahezu 400 deutsche Unternehmen sind in Vietnam tätig, die deutschen Direktinvestitionenbelaufen sich auf knapp 3 Milliarden Dollar. Fast 50.000 Arbeitsplätze wurden von deutschen Unternehmen in Vietnam geschaffen.
VNA: In welchen Bereichen sollten Vietnam und Deutschland in Zukunft die weitere Zusammenarbeit fördern?
Rolf Schulze: Auf bilateraler Ebene bietet die Berufsausbildung ein breites Spektrum zukünftiger Zusammenarbeit. Das duale Berufsausbildungssystem wurde in Deutschland entwickelt und im Laufe der Jahre von vielen Ländern auf der ganzen Welt übernommen. Auch in Vietnam hat es viele Anhänger gefunden, zahlreiche Programme sind bereits verfügbar.
Das Hauptmerkmal des dualen Systems ist die Zusammenarbeit zwischen überwiegend kleinen und mittleren Unternehmen einerseits und öffentlich geförderten Berufsschulen andererseits. Auszubildende im dualen System verbringen einen Teil der Woche in einer Berufsschule und den anderen Teil in einem Betrieb. Eine duale Ausbildung dauert in der Regel zwei bis dreieinhalb Jahre. Um Auszubildende auf die spezifischen Anforderungen eines Unternehmens vorzubereiten, wird der praktische Teil stark auf die Bedarfslage der Unternehmen ausgerichtet. Durch die Kombination von Theorie und Praxis wird die Einbindung des Auszubildenden in konkrete betriebliche Arbeitsabläufe sichergestellt. Die Deutsche Handelskammer übernimmt in Vietnam die Rolle des ersten Ansprechpartners, Schulungsberaters und Koordinators.
Auf internationaler Ebene sollten beide Länder ihre Zusammenarbeit innerhalb des UN-Systems weiter stärken. Ein vertiefter Erfahrungsaustausch zu internationalen Herausforderungen wäre für beide Nationen ein Win-Win-Szenario.
VNA: Welche Pläne hat die Deutschland-Vietnam-Gesellschaft für den 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern?
Rolf Schulze: Die Deutsch-Vietnamesische Gesellschaft (DVG e.V.) betrachtet den 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen als einen wichtigen Meilenstein in der jüngeren Geschichte beider Länder. Wir stimmen unsere Pläne eng mit der vietnamesischen Botschaft in Berlin und dem Auswärtigen Amt ab. Kürzlich hatten wir ein Brainstorming mit der Vietnam Union of Friendship Organizations (VUFO) und auch mit einer Delegation des Zentralkomitees.
Die DVG wird im Jahr 2025 an einer deutschen Universität ein eintägiges Expertentreffen veranstalten, das sich mit Perspektiven der bilateralen Zusammenarbeit befassen soll. Wir möchten Anregungen für eine zukunftsweisende Umsetzung der Strategischen Partnerschaft geben. Wenn möglich, würden wir gerne ein weiteres Expertentreffen in Vietnam organisieren, vorzugsweise im Deutschen Haus in Ho-Chi-Minh-Stadt.
Darüber hinaus hat die DVG ein großes Interesse daran, die vietnamesische Gemeinschaft in Deutschland in die Aktivitäten des Jahres 2025 einzubinden. Wir denken an einen runden Tisch mit jungen Teilnehmern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und sich in beiden Ländern zu Hause fühlen.
Ein größeres Projekt, das uns vorschwebt, ist ein Vietnam-Pavillon in den „Gärten der Welt“ in Berlin. In diesem wunderschönen Park sind bereits verschiedene asiatische Länder vertreten. Das Jahr 2025 wäre eine gute Gelegenheit, auch Vietnam in den „Gärten der Welt“ zu repräsentieren, damit die Besucher die reiche Kultur und Geschichte des Landes erleben können.